Novemberblues, Allerheiligen und Kathrin

Sie hat nicht viele Freunde. Sie ist sich der Werte von Freundschaft bewusst und geht mit diesem Begriff nicht inflationär um.
Das war nicht immer so. Vor der Trennung von Friedjof gab es einen riesigen Freundeskreis, so groß, dass eine regelmäßige Pflege aller Freundschaften kaum möglich war.

Kathrin war keinesfalls die Ursache, maximal der Auslöser, denn Friedjof und ihr war gemeinsam bewusst, dass sie sich nach mehr als einer Dekade des Zusammenseins auseinandergelebt hatten. Daran änderte auch die nur noch durch Worte beteuerte Kampfbereitschaft und das Begeben in eine Eheberatung nichts. Schon gar nicht unter dem Umstand, dass die partnerfreien Zeiten, die sich jeder nehmen sollte, um die Beratungsimpulse für sich zu überdenken, für Turnmeisterschaften in fremden Betten genutzt wurden. Doch das erfuhr sie erst später. Als endlich mit offenen Karten gespielt wurde. Und da tat es kaum noch weh.

Schmerzen bereiteten die Freunde. Sie erhielt verschnupfte Anrufe, die über den Ausfall einer Geburtstagsparty informierten, etablierte Spieleabende wurden abgesetzt, weil man sich völlig zerstritten habe, auch Vater-, Pfingst- und andere Feiertage wollte man nun, im gesetzten Alter von Anfang dreißig, doch lieber mit der Familie verbringen. Relativ rasch blieben auch Telefonate, in denen sich höflichkeitshalber nach ihrem Befinden erkundigt wurde, aus.

Zunächst zutiefst enttäuscht, später belustigt beobachtend, nahm sie wahr, wie Freunde, denen man in einer Kleinstadt unweigerlich begegnet, hochkonzentriert in Schaufenster, teilweise mit Miederware ausgelegt, starrten. Eines Tages, als Friedjof und sie schon lange wieder einen respektvollen Umgang miteinander pflegten und bereits der ein oder andere Small-Talk mit Kathrin stattgefunden hatte, sprach sie dabei eine einst als gut bezeichnete Freundin an. Mit gerötetem Gesicht folgte ein Wortschwall voller Begründungen weshalb, wieso und überhaupt. Und außerdem sei Kathrin unheimlich nett.
„Wenn Friedjof sich eine blöde Kuh ausgesucht hätte, hätte ich mich jahrelang in ihm getäuscht,“ sagte sie emotionslos.
Das Angebot, auf das freudige Wiedertreffen einen Kaffee trinken zu gehen, um endlich mal wieder in aller Ruhe zu schnacken, lehnte sie mit einem einzigen Wort ab.

Nachdem Friedjof sie zum Essen eingeladen hatte, um ihr dabei seine erschütternde Diagnose persönlich mitzuteilen, verging noch ein halbes Jahr, bis sich die Krankenhausbesuche häuften.

Im Krankenzimmer wurde es immer stiller. Es kamen keine Freunde mehr, da sie die Qualen und den Anblick des immer stärker ausmergelnden, von der Krankheit gezeichneten, einst so gutaussehenden und lebensfrohen Mannes nicht ertrugen.
Kathrin und sie lernten, gemeinsam zu schweigen, gemeinsam zu weinen und gemeinsam zu lachen.
Der morphiumbetäubte Geist des sterbenden Körpers konnte es nicht mehr bewusst wahrnehmen, doch beide Frauen bemerkten ein Lächeln auf dem seit Wochen schmerzverzerrten Gesicht, als sie sich tränenlos in den Armen lagen und sich einander jenen Satz ins Ohr flüsterten, der einst vor einem Schaufenster entgegen jeglichen Fremddenkens ausgesprochen wurde.

Am Ende hatte Friedjof es eingerichtet, dass weder Kathrin noch sie anwesend waren, als seine Seele die Körperhülle verließ. Doch beide konnten es minutengenau spüren.
Er wurde 44 Jahre alt.

Dieser Tage sitzen Kathrin und sie wie jedes Jahr um diese Zeit in dem kleinen Café. Sie teilen kurze Momente des Gedenkens, in erster Linie aber lachen sie.
Zum zehnten Mal lachen sie dort zu zweit.

Sie hat nicht viele Freunde. Kathrin gehört dazu.



01.11.2018


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