Das Argument der Einschüchterung

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Ein Beitrag, welchen ich bereits vor mehreren Jahren schon einmal vorgestellt habe kann derzeit nicht aktueller sein.

Bei meinem Streifzug durch das Internet und einiger Debatten - wie auch mehrere Zeitungsberichte - die ich mir angetan habe, stellte ich fest, das eine Vielzahl der Debatten und Presseartikel vom „Argument der Einschüchterung“ getragen werden.

Ohne näher auf eine spezielle Debatte oder einen Pressebericht eingehen zu wollen (es lohn sich nicht), möchte ich diesen alten Beitrag als Leitfaden des Erkennens auf das Jahr 2021 aktualisieren.

Ändern muss ich jedoch nichts, da sich die Methoden der Anwendung auch nicht geändert haben.

Es gibt ein Argument, das in Wirklichkeit kein Argument ist, sondern Debatten vereiteln und die Zustimmung zu undisskutierten Ideen erpressen will. Dieses Argument will Logik durch psychologischen Druck umgehen. Da es in der heutigen Kultur so verbreitet ist und in den nächsten Monaten und Jahren noch weiter um sich greifen wird, tut man gut daran, es zu identifizieren und zu lernen, vor ihm auf der Hut zu sein.

Diese Methode trägt eine gewisse Ähnlichkeit zum ad-hominem-Trugschluss und kommt aus derselben psychologischen Wurzel, hat aber eine andere Bedeutung. Der ad-hominem-Trugschluss besteht aus dem Versuch, ein Argument durch den Angriff auf den Charakter seines Vertreters zu widerlegen, z.B. „Kandidat X ist unmoralisch, deswegen ist sein Argument falsch.“

Die Methode des psychologischen Drucks besteht hingegen aus der Drohung, den Charakter des Gegners durch sein Argument anzugreifen und somit das Argument ohne Debatte anzufechten, z.B. „Nur ein unmoralischer Mensch kann nicht sehen, dass das Argument von Kandidat X falsch ist.“

Im ersten Fall wird die (tatsächliche oder angebliche) Unmoral des Kandidaten X als Beweis dafür hingestellt, dass sein Argument falsch ist. Im zweiten Fall wird die Unrichtigkeit seines Argument willkürlich festgestellt und für den Beweis seiner Unmoral angeboten.

Im erkenntnistheoretischen Dschungel von heute wird diese zweite Methode häufiger angewendet als alle anderen irrationalen Argumente. Es sollte als logischer Trugschluss klassifiziert und vielleicht „Das Argument der Einschüchterung“ genannt werden.

Das grundlegende Merkmal des „Arguments der Einschüchterung“ ist sein Appell an moralische Selbstzweifel und sein Vertrauen auf die Angst, die Schuldgefühle oder die Unwissenheit des Opfers. Es wird in Form eines Ultimatums benutzt, das verlangt, dass man eine Idee ohne Diskussion aufgibt, mit der Drohung, sonst als unmoralisch angesehen zu werden. Das Muster ist immer: „Nur böse (unehrliche, herzlose, gefühllose, dumme, usw.) Menschen, können eine derartige Idee haben.“

Das klassische Beispiel für das Argument der Einschüchterung ist die Geschichte „Des Kaisers neue Kleidung.“
In dieser Geschichte verkaufen Scharlatane dem Kaiser nichtexistente Kleider und behaupten, dass die ungewöhnliche Schönheit der Kleider sie für moralisch verkommene Menschen unsichtbar macht. Beachtet die erforderlichen psychologischen Faktoren: Die Scharlatane verlassen sich auf die Selbstzweifel des Kaisers; der Kaiser hinterfragt ihre Behauptung oder ihre moralische Autorität nicht; er gibt sofort nach und behauptet, er sähe die Kleider - und verleugnet lieber den beweis seiner Augen und sein eigenes Bewusstsein als eine Bedrohung seines labilen Selbstwertgefühls hinzunehmen. Seine Entfernung von der Realität kann man daran messen, dass er es vorzieht, nackt herumzulaufen und nichtexistente Kleider herumzuzeigen, statt das Risiko eines Moralurteils zweier Schurken hinzunehmen. Die Untertanen leiden an der gleichen psychologischen Panik und versuchen einander mit Lobpreisungen über die Schönheit seiner Kleider zu übertreffen - bis ein Kind ausruft, dass der Kaiser nackt ist.

Dies ist das genaue Wirkmuster des Arguments der Einschüchterung, wie es überall um uns herum funktioniert.
Wir haben alle gehört und hören es ständig:
„Nur Menschen ohne feinere Instinkte können die Moral des Altruismus nicht akzeptieren.“ - „Nur Dummköpfe verstehen nicht, dass Vernunft als ungültig widerlegt worden ist.“ - „Nur herzlose Reaktionäre können Kapitalismus befürworten.“ - „Nur Kriegstreiber können gegen die Vereinten Nationen sein.“ - „Nur Verrückte können noch an Freiheit glauben.“ - „Nur Feiglinge sehen, dass das Leben eine Jauchegrube ist.“ - Nur Oberflächliche können Schönheit, Glück, Werte oder Helden suchen.“

Als Beispiel für ein gesamtes Gebiet, das nur auf dem Argument der Einschüchterung beruht, biete ich euch in moderner Kunst. Auf diesem Gebiet versuchen Leute sich gegenseitig mit Lobpreisungen über irgendein leeres oder beschmiertes Stück Leinwand zu übertreffen, um zu beweisen, dass sie wirklich die spezielle Einsicht des mystischen „Elite“ besitzen.

Das Argument der Einschüchterung dominiert Diskussionen auf zweierlei Weise. In öffentlichen Ansprachen und in der Presse blüht es in Form langer, verwickelter, umständlicher Schachtelsätze aus unverständlichen Formulierungen, die außer moralischer Drohungen nichts klar vermitteln („Nur Primitive können nicht sehen, dass Deutlichkeit Übersimplifizierung ist.“). Und im privaten, alltäglichen Bereich taucht es wortlos zwischen den Zeilen auf, in Form unartikulierter Laute, die unausgesprochene Implikationen vermitteln. Das Argument der Einschüchterung verlässt sich nicht auf das, was gesagt wird, sondern darauf, wie es gesagt wird - nicht auf den Inhalt, sondern auf die Stimmlage.

Der Ton soll im Allgemeinen Verachtung oder Ungläubigkeit ausdrücken. „Sicher sind sie doch nicht für Kapitalismus, oder?“ Und wenn sich das vermeintliche Opfer davon nicht einschüchtern lässt und antwortet: „Doch“, läuft der darauf folgende Dialog in etwa so ab: „Oh, Sie doch nicht. Nicht im Ernst!“ „Doch, im Ernst.“ „Aber jeder weiß doch, dass der Kapitalismus ausgedient hat.“ „Ich nicht.“ „Ach kommen Sie.“ „Da ich es nicht weiß, würden Sie mir die Gründe dafür sagen?“ „Ach seien Sie nicht albern.“ „Würden Sie mir die Gründe sagen?“ Also ehrlich, wenn Sie das nicht wissen, dann ist Ihnen nicht zu helfen!“ (Das ist noch die höfliche Form der Unterredung)

All das wird begleitet durch hochgezogene Augenbrauen, aufgerissene Augen, zuckende Schultern, Grunzen, Kichern und dem gesamten Arsenal nichtverbaler Signale, was ominöse Andeutungen und emotionale Schwingungen einer einzigen Art herüberbringen soll: Missbilligung:

Wenn solche Schwingungen versagen, wenn solchen Diskussionsteilnehmern die Stirn geboten wird, findet man heraus, dass sie keine Argumente, keine Beweise und keine Gründe haben und dass ihre laute Aggressivität dazu dient, ein Vakuum zu verstecken - und dass das Argument der Einschüchterung das Eingeständnis intellektuellen Unvermögens ist.

Der urzeitliche Archetyp dieses Arguments ist offensichtlich (genau so offensichtlich wie seine Attraktivität für Neomastiker unserer Zeit): „Für die, die verstehen, ist keine Erklärung nötig, für jene, die es nicht tun, ist keine möglich.“

Die psychologische Quelle dieses Arguments ist gesellschaftliche Metaphysik.

Ein Gesellschaftsmetaphysiker glaubt, dass das Bewusstsein eines anderen Menschen dem seinen und den Tatsachen der Realität überlegen ist. Für einen Gesellschaftsmetaphysiker ist die moralische Würdigung seiner selbst durch andere ein primäres Interesse, das Wahrheit, Tatsachen, Vernunft und Logik verdrängt. Ablehnung durch andere ist so erschreckend für ihn, dass sein Bewusstsein diesem Konflikt nicht standhalten kann, also wird er den Beweis seiner eigenen Augen abstreiten und sein eigenes Bewusstsein außer Kraft setzen, damit er die moralische Billigung eines jeden dahergelaufenen Scharlatans bekommt. Nur ein Gesellschaftsmetaphysiker kann die absurde Hoffnung hegen, eine inelekttuelle Diskussion durch den Einwurf „Aber man wird dich nicht mögen!“ Zu gewinnen.

Genau genommen fällt einem Gesellschaftsmetaphysiker sein Argument nicht durch bewusste Formulierung ein: Er findet es „Instinktiv“, durch Introspektion, da dies seine psycho-epistemologische Lebensweise repräsentiert.

Wir alle haben schon diese hoffnungslosen Personen getroffen, die nicht dem zuhören, was man sagt, sondern den emotionalen Schwingungen der Stimme, diese dann ängstlich in Zustimmung oder Ablehnung übersetzen und dementsprechend antworten, dem ein Gesellschaftsmetaphysiker meistens erliegt. Und wenn er einen Gegner trifft, der seine Prämissen anzweifelt, greift er automatisch zu der Waffe, die ihn selbst am meisten ängstigt: dem Entzug moralischer Billigung.

Da diese Angst psychologisch gesunden menschen unbekannt ist, können sie vom Argument der Einschüchterung genau wegen ihrer Unschuld überrumpelt werden. Unfähig, das Motiv dieses Arguments zu verstehen, oder zu glauben, dass es nur ein sinnloser Bluff ist, vermuten sie, dass dessen Anwender über Wissen oder über Gründe verfügt, die seine anscheinend selbstsichere, kämpferische Behauptungen unterstützen; sie sprechen im Zweifel für den Angeklagten - und sind hilflos und verwirrt. Auf diese Weise können die Gesellschaftsmetaphysiker die jungen, die Unschuldigen und die gewissenhaften hereinlegen.

Besonders häufig findet man dies in den Hörsälen der Universitäten an. Viele Professoren benutzen das Argument der Einschüchterung, um unabhängiges denken bei Studenten zu ersticken, um Fragen auszuweichen, die sie nicht beantworten können oder um jede kritische Analyse ihrer willkürlichen Behauptungen und jede Änderung ihres intellektuellen Status Quo zu verhindern.

Im politischen Leben ist das Argument der Einschüchterung fast die ausschliesliche Diskussionsmethode. Politische Debatten bestehen heute hauptsächlich aus Verleumdungen und Entschuldigung oder aus Einschüchterung und Beschwichtigung. Die erste Methode wir üblicherweise (aber nicht ausschließlich) von den Sozialen praktiziert, die zweite von den „Konservativen. Die Meister sind in dieser Hinsicht die liberalen Konservativen, die beide praktizieren: die erste für ihre Konservativen, die zweite für die Sozialdemokraten

Das Argument der Einschüchterung illustriert, warum es wichtig ist, sich über seine Prämissen und seinen moralischen Standpunkt im klaren zu sein. Es illustriert die intellektuelle Falle, in die man tappt, wenn man ohne volle, klare, konsequente, fundamental integrierte Überzeugungen loszieht und Hals über Kopf in den Kampf rennt, nur bewaffnet mit einigen zufälligen Ideen, die im Nebel des Unbekannten, Unidentifizierten, Undefinierten und Unbewiesenen schweben und die nur durch Gefühle, Hoffnungen und Ängste untermauert werden.
Das Argument der Einschüchterung ist ihre Nemesis. In moralischen und intellektuellen Fragen reicht es nicht, recht zu haben, man muss wissen, dass man recht hat.

Das berühmteste Beispiel in z.B. der amerikanischen Geschichte für die richtige Antwort auf das Argument der Einschüchterung gab Patrick Henry im Jahre 1765, der im vollen Vertrauen auf seine eigene Rechtschaffenheit die moralischen Maßstäbe seiner Feinde zurückwies, indem er sagte: „Wenn das Verrat ist, machen Sie das Beste daraus.“

Euer Zeitgedanken

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