Die Perle an der Blies

Eine Perle ist ein fester, oft runder Fremdkörper aus Perlmutt.

Es folgt eine subjektive Wertschätzung.

Ottweiler, die Stadt, die mich einst mit offenen Armen aufnahm. -

Diese offerierte Gastfreundschaft im Rückblick mit Sicherheit oft infrage stellte.

Eher ungewöhnlich bei mir, dass ich vor dem leeren Blatt Papier sitze und es mir schwerfällt, den ersten Satz ohne längere Verzögerungen aus der Tinte zu zapfen, obwohl das Thema bereits wie eingemeißelt scheint. Möglicherweise aber dann doch nachvollziehbar, wenn es um die Stadt oder den Ort gehen soll, an dem ein prall gefüllter Sack mit vielen Erinnerungen hängt.
Nein, es ist nicht meine Geburtsstadt, die es im Übrigen auch nie gab, da ich in einem Kuhkaff meinen ersten Schrei an die Welt richtete, welches heute unter dem damaligen Namen überhaupt nicht mehr existiert.

Die Stadt, um die es geht, öffnete ihr Tor für mich, als ich gerade irrsinnig stolz auf mich selbst war, da ich das mit dem Laufen auf zwei Beinen so einigermaßen auf die Reihe bekam. Die Straße, in der wir wohnten, war nicht nur unfassbar lang, sondern auch noch links und rechts mit Doppelhäusern bestückt, die allesamt gleich aussahen.

Das, in welchem wir wohnten, unterschied sich nur dadurch von denen links, rechts und gegenüber, weil in der Wohnung unter uns ein Ehepaar wohnte, die mir so alt wie die Omas und Opas aus den Märchen vorkamen, die meine Mama mir (obwohl ich sie nicht darum bat) am Abend vorlas. Vorlesen war für mich, um dies nicht unerwähnt zu lassen, ohnehin nur Mist, da hinterher stets der gleiche Satz folgte: „So, und jetzt wird geschlafen.“

Der große Unterschied zu den Alten aus Grimms Märchen, die oft nur spärlich bezahnt und mit knorrigem Holzstock unterwegs schienen, bestand darin, dass die beiden vom ersten Augenblick so vernarrt in mich waren, um ihr ergrautes Haupt als Spielplatz für den Dreikäsehoch aus der Mietwohnung freizugeben.

Hätte mich damals jemand nach meiner Meinung befragt, ich hätte voller Überzeugung bekundet, von der neuen Stadt ganz begeistert zu sein. Erste Kratzer zeichneten sich an meinem Bild über Ottweiler ab, als man mich in aller Herrgottsfrühe auf dem Bürgersteig bis zur Pforte des Kindergartens zerrte. Kaum hatte ich dieses Martyrium ohne größere Schäden an Leib und Seele hinter mich gebracht, sah ich mich mit einer riesigen Schiefertafel konfrontiert, vor der sich zu allem Unglück auch noch eine Person aufbaute, die nicht müde wurde, ständig zu betonen, alles besser zu wissen. Sozusagen das Abziehbild meines Vaters.

Die Stadt fing langsam an, sich mehr und mehr unbeliebt bei mir zu machen.
Nach vier Jahren Schiefertafel und notorischem Besserwisser, also einem Zeitraum, der vollkommen ausreicht, um zu erkennen, wer von den anderen Jungs zum Kumpel aufgestiegen und welche der Mädchen sich auf dem besten Weg zur Zicke befand, folgte der nächste, von oben herab verordnete Stellungswechsel.
Raus aus der Stadt (zumindest tagsüber) des verblassenden Sterns und rein in die Großstadt mit ständig verrußten Fassaden, einer Bahnhofskneipe mit stets durstigen Gruben- und Hüttenarbeitern und einem Gymnasium nur für Jungs.

Der Stern Ottweilers war urplötzlich nicht mehr weiter im freien Fall. Gegen den Betrieb der Großstadt schien der Heimathafen wie ein Ort der Entspannung und (was noch viel besser war), man kannte wenigstens den, der im Zug seiner Forderung nach einem Sitzplatz eine Prise Erpressung beimischte: „Steh’ gefälligst auf oder sollte ich mich mal mit deinem Vater unterhalten.“

Kaum mit dem Wissen bis zur Hutschnur abgefüllt, welches im realen Leben ein äußerst schattiges Dasein führt, existierte für mich nur ein Wegweiser auf meinem Weg in die Zukunft:

Die erste Entscheidung, die ich traf: keinem mehr die Hand zu reichen, damit er mich am Zebrastreifen über die Straße führt. Ich wollte quer rüber, am Mittelstreifen womöglich eine Pause einlegen oder es gar im Handstand versuchen. Hauptsache weg vom Ruß, Staubwolken, Schiefertafeln und von Ottweiler.

Als mir viele Jahre später auf einem bestens polierten Silbertablett die Möglichkeit serviert wurde, in genau der Stadt, in deren längster Straße die Häuser nahezu gleich aussehen, meiner Leidenschaft für den Jazz, gutes Essen und die schriftliche Aufbereitung von Fehltritten auf dem politischen Parkett ausgiebig und regelmäßig vergütet nachzugehen, schloss ich nicht nur den Genossen Zufall, sondern auch meine Heimatstadt erneut ins Herz.

Jedoch nährte sich diese stetig weiter aufkeimende Liebe nicht aus dem architektonischen Stadtbild oder der Tatsache, dass mit der Volksbank und der Sparkasse gleich zwei Unternehmen ansässig waren, die sich (im Gegensatz zum kompletten Rest) nicht zu schade waren, Jahr für Jahr Gewerbesteuer abzuführen, sondern an den Menschen, die sich mehr oder weniger gut gelaunt zwischen dem alten Fachwerk in den engen Gassen die Füße platt liefen.

Da sich die einschleichende Routine, erste Anzeichen von Selbstgefälligkeit und das Gefühl, alles laufe prima und könne kaum noch besser werden, meine Gedankenwelt in den eingeschränkt funktionierenden Modus zu versetzten drohte, war es höchste Zeit Ottweiler abermals (und dieses Mal für immer) den Rücken zu kehren.

Und nun holt sie mich ein, die Vergangenheit. Denn vor wenigen Tagen flatterte mir diese Meldung der SZ (Saarbrücker Zeitung) auf den Schreibtisch. Ich konsumierte sie (ohne vorher den Beipackzettel gelesen zu haben) und bemerkte prompt auftretende Nebenwirkungen der mit Fragen überlagerten Art und gab mich daraufhin der angefachten Neugier hin.

Was ist seither zwischen Pflasterstein und Fachwerk geschehen, dass der seltsam schwungvoll zelebrierten Trostlosigkeit das Prädikat sehenswert verliehen wird? Welche Drogen sind dafür verantwortlich, wenn nördlich der Alpen die dauerhaft gepflegte Tristesse zur Hochkultur aufsteigt?

Da selbst tausend Kilometer vom Geschehen entfernt, liegt es für mich nahe, um zumindest einen Hauch von Aufklärung zu erhaschen, das Angebot im schmerzunempfindlichen Internet zu durchstöbern.
Mein nahezu unerschütterlicher Glaube an das Machbare wurde tatsächlich belohnt.
Mein Ottweiler in bewegten Bildern:

In der Tat ist dies jene Stadt, die die Kulisse für viele, auch manchmal unvergessliche Momente in meinem Leben darbot. Die unsanfteste aller Landungen neben dem Trampolin, eine erste Annäherung an die Klarinette und all dem, was sonst noch Töne zu entlocken lohnt, der spezielle Kuss mit dem automatisch eingebautem Augenschließreflex und der erste Orgasmus mit aktiver Selbstbeteiligung.

Doch all das, was hier und jetzt gezeigt wird, taugt überhaupt nichts ohne die Menschen, die der Stadt letztlich das Leben einhauchen. Ich kämpfe beim Betrachten der Aufnahmen gegen das Abgleiten in den Schlafmodus. Wo um Himmels willen war zu dem Zeitpunkt der Schräge Otto, der grundsätzlich niemanden ungefragt nach einem Euro am Brunnen vorbeischlendern lässt?

Butschel, der eigentlich Erwin heißt, aber trotzdem von allen Baustelle in der Stadt ein Kabel, ein Abflussrohr oder ein Schalbrett bis vor die eigene Haustür schleppt, weil er fest davon überzeugt ist, all das einmal gut gebrauchen zu können?

De Guschdel, von seiner Mutter Achim getauft, selbst ernannter bester Kranführer der Welt und allzeit bereit, den Schlachter zum Besten zu geben – aber nur, wenn neben dem geschliffenen Messer auch ein Kasten Bier griffbereit steht?

Wieso vermisse ich Walter, der mir zu einem unfassbar günstigen Preis einen beinahe fabrikneuen Benz anbietet und dabei nicht im Nebensatz zu erwähnen vergisst, dass bei Nichtgefallen die Karre auch gegen einen Billardtisch (ohne Kugeln und Queue – die kosten extra) eingetauscht werden kann?

Oder Caruso, die zu fleischgewordene Jukebox, aus der du gegen Vorbezahlung (Euro oder Flaschenbier) italienische Arien in C-Dur und auf Esperanto abrufen kannst? Die Liste der Artisten und Originale könnte von mir noch seitenweise gefüllt werden.
Da fällt mir noch einer ein.

Der Vorsitzende des alten (wenn nicht gar aller ältesten) Karnevalsvereins, der im wahren Leben das Dasein einer aufgeweichten Schlaftablette führt und obendrein als Fraktionsführer im Stadtparlament immer ansprechbar scheint, wenn der Schraubenzieher gebraucht wird, mit dem die Zukunft der Stadt neu justiert wird.

Wenn wir schon mal dabei sind, vermisse ich Nippnapp. Aber war der womöglich, als diese Aufnahmen entstanden, mit seinem Fahrrad unterwegs nach Münster, Straßburg oder Ulm? Denn an diesen Orten bevorzugt er es, das Glockengeläut der jeweiligen Gotteshäuser digital zu bannen, um am darauffolgenden Sonntagmorgen, exakt 06:00 Uhr am Morgen, seine direkte und indirekte Nachbarschaft mit jenen Klängen zu wecken. Dies bewerkstelligt er mit der Verlagerung seiner nicht ganz billigen Bose-Boxen zwischen dem Fensterrahmen zur Straßenseite und einem Dreh am Lautstärkeregler des Verstärkers.

Ja, schade, das wäre für mich Ottweiler gewesen. Und kein menschenleeres Idyll, welches dieser Auszeichnung auch lediglich in der Innenstadt gerecht werden kann. Ich liebte diese Stadt zeitweise tiefst und innig, weil sie um mich herum mit Leben gefüllt war und ich ihr mit Wucht und voller Absicht auf die Füße treten konnte. In jenen Augenblicken quietschte die Stadt so herzzerreißend auf. Ja, so herzzerreißend, dass ich ab und an auch mein Gewissen befragen musste, ob es nicht auch etwas sanfter geht? Ging nicht – denn die Schraubendreher an der Zukunft hatten sich ja mehrheitlich den Schlaftabletten verschrieben.

Quelle: https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/politik_wirtschaft/grossprojekt_ottweiler_100.html

Diese Meldung ist dann selbstverständlich Wasser auf die Mühle meines an Sarkasmus grenzenden Gedankenflusses. Unten werden die Pampers aufgestapelt und obendrüber wartet die Kundschaft geduldig auf Nachschub. Wenn ich über solche Kuriositäten stolpere, muss ich wahrhaftig immer wieder an diese, meine Perle an der Blies denken.

Als der damalige Bürgermeister während einer Bürgerversammlung das Ergebnis eines intensiven Brainstormings (laut Protokoll waren alle Schlaftabletten damals vertreten) öffentlich machte, dass sich Ottweiler zukünftig mit dem Etikett Perle schmücken werde, bat ich eine Zwischenfrage stellen zu dürfen.

„Herr Bürgermeister, woher stammt Ihr plötzlicher Sachverstand für kostbaren Perlmutt-Schmuck? Ich habe mir im Vorfeld erlaubt, mich beim hiesigen Goldschmied zu erkundigen, wie er den Zusammenhang zwischen Ottweiler und einer Perle sieht. Der Mann gab mir zu bedenken, hier nicht unberücksichtigt zu lassen, dass der Markt wohl auch mit Glasperlen überschwemmt sei.“

Als mir danach, nachdem sich das Gebrumme im kleinen Saal gelegt hatte, auch noch rausrutschte, dass somit fortan die Stadtverordneten als Perlentaucher mit Schnorchel und Tauchermaske den Stadtratssitzungen beiwohnen sollten, war ich mal wieder der, der ständig das Haar in der wässrigen Brühe suchen muss.

Zum heutigen Abschluss noch das Telefonat einer SR (Saarländischer Rundfunk) Redakteurin mit den Bürgermeistern von Ottweiler und Wadern – also den beiden Städten im Saarland, die sich in Zukunft vor dem Ansturm neugieriger Touristen kaum noch zu retten wissen.

Hier das Telefonat: https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=125278

Was mir in diesem Zusammenhang auffällt, ist die Tatsache, dass der Bürgermeister der Gemeinde Wadern Ottweiler überhaupt nicht kennt. Und dies in dem Bundesland, in dem sich fest das Gerücht hält, dass eigentlich jeder jeden kennt – oder zumindest einen kennt, der den anderen kennt. Auf der anderen Seite sollte nicht unerwähnt sein, dass beide Städte 40 km auseinander liegen. Für den Saarländer eine Distanz, die beinahe schon in die Kategorie Wochenendausflug einzuordnen ist.
Ausgenommen dabei mein Vater, der auch 40 km zu der Tankstelle fährt, an der das Benzin 3 Cent billiger sein soll.
Aber der ist auch Lehrer!
Und das mit der Schiefertafel und der Besserwisserei hatten wir ja gleich zu Anfang …

Bleibt bitte gesund und munter und sollte noch keine geeignete Destination für den nächsten Jahresurlaub gefunden sein, dann wisst ihr ja ab sofort Bescheid!

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