"Der Herr der Fliegen", aber in echt!

Lieber Leser,
kürzlich erfuhr ich von einer wahrhaft unglaublichen Geschichte. Im berühmten Roman "Der Herr der Fliegen" aus 1954 von William Golding (Orig. "Lord of the Flies") ging es ja um den Überlebenskampf einer Gruppe schiffbrüchiger Kinder auf einer unbewohnten Insel. Der Roman thematisiert auf verstörende Weise die angeborene Gewaltbereitschaft des Menschen.

Szene aus einer Verfilmung von 1963 (Quelle)
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So einen Fall gab es aber auch in Wirklichkeit, nicht nur als Fiktion! In 1965/66 verschlug es 6 tongaische Jugendliche auf eine unbewohnte Insel und sie mussten fast eineinhalb Jahre dort überleben. Ging es dort auch so entsetzlich zu wie in Golding´s Roman? Das ist passiert:

Sechs Jungs (15-16 Jahre alt) aus einem katholischen Internat in der Hauptstadt Tongas (ein kleiner Inselstaat in der Nähe von Neuseeland) war im Jahr 1965 langweilig und sie fassten den verrückten Entschluss, ein Fischerboot zu stehlen und damit nach Fidschi zu fahren, was 800km quer über das offene Meer entfernt ist! Sie nahmen weder Kompass noch Karte mit, nur 2 Kisten Bananen und ein paar Kokosnüsse. Nach einem Sturm gingen Segel und Ruder kaputt und sie trieben antriebs- und orientierungslos über das Meer. Sie konnten Regenwasser in Kokosnuss-Schalen sammeln, was kaum zum Überleben reichte, aber wie durch ein Wunder trafen sie nach 8 Tagen auf die kleine, unbewohnte Insel Ata, ca. 160km von Tongatapu entfernt, von wo sie aufgebrochen waren. Doch die Insel war voller gefährlichen Klippen, die beim Versuch zu landen, das Boot komplett zerstörten. Mit letzten Kräften konnten sie an Land gehen.

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Anfangs ernährten sie sich von Kokosnüssen, Fischen und an den Felswänden brütenden Seevögeln, deren Blut sie auch tranken, da die Insel kein natürliches Wasservorkommen hatte. Roh, weil sie kein Feuer machen konnten. Erst nach unzähligen Versuchen gelang es einem der Teenager, ein Feuer zu entzünden (er hatte gewusst, wie es seine Vorfahren gemacht hatten). Das wurde gehütet wie ein Schatz und den Rest der Zeit liessen sie es kein einziges Mal ausgehen! Wasser wurde in ausgehöhlten Baumstämmen gesammelt und manche Bäume hatten im Wurzelstock Wasservorräte.
Die Ernährunssituation verbesserte sich erst, als sie bei einer Erkundung die Reste einer Siedlung fanden (die Insel war seit über 100 Jahren unbewohnt). Dort gab es verwilderten Taro, Jackfrüchte, Bananen und die Nachkommen der zurückgelassenen Hühner! Sie bauten Fallen und fingen die schnellen und scheuen Hühner (was nicht leicht war), bis sie ca. 200 hatten, und bauten Ställe für sie. Ab da hatten sie genügend zu essen, Eier und ab und zu ein Huhn (wenn das Wetter zu schlecht für die Jagd auf Seevögel war).

Kam es zu Streitigkeiten? Ja, öfter, aber dennoch überwog der Wille, zusammenzuhalten. Unter den Gestrandeten gab es die Regel, nach einem Streit 4 Stunden getrennt zu verbringen - ein Art Abkühlphase. "That's how we stayed friends", sagte einer der Überlebenden viel später.
Sie bauten sich eine Gitarre und schrieben Lieder, sie bauten auch einen Badmintonplatz und spielten gegeneinander. Durch Boxen und physische Übungen hielten sie sich fit.

Einmal stürzte einer der Jungs beim Jagen an den Felsen ab und brach sich ein Bein. Die anderen fanden ihn, brachten ihn zum Lager zurück und schienten sein Bein mit Zweigen. Sie kümmerten sich und versorgten ihn über Monate, bis er wieder gehen konnte.
Sie versuchten auch, der Insel zu entkommen und bauten ein Floss. Aber das zerschellte kurz nach dem Start an Riffs und sie mussten zurückschwimmen. Gottseidank für sie, denn im Floss hätten sie vermutlich nicht lange genug überlebt, um eine bewohnte Insel zu erreichen.

Erst nach 15 Monaten, am 11. Sep. 1966, wurde ein Schiff aufmerksam auf sie, nachdem 4 Schiffe zuvor an ihnen vorbeigesegelt waren, ohne sie zu entdecken. Peter Warner, der Sohn eines australischen Industriellen und Politikers und schwarzes Schaf der Familie, segelte auf seinem Schiff heimwärts von Tonga und an Ata vorbei, wo er Brandspuren im Gras sah, die von Feuern der Schiffbrüchigen stammten. Auch sagte ihm einer seiner Matrosen, dass er Stimmen gehört hätte, Warner glaubte ihm aber nicht. Er kam näher und entdeckte 6 langhaarige, verwildert aussehende, nackte Gestalten auf das Schiff zuschwimmen. Sie sprachen den Erstaunten in perfektem Englich an und erzählten ihm ihre Geschichte. Nach Tonga funkend, wollte er sich vergewissern, dass diese stimmte und die 6 nicht etwa entflohene Gefangene wären (die sich Gerüchten zufolge in der Gegend herumtreiben konnten). Von dort kam die Antwort, dass es sich um ein Wunder handle, die Sechs wären längst für tot gehalten und Begräbnisse waren abgehalten worden. So kamen alle 6 wohlbehalten nach Tonga zurück und Peter Warner wurde als Held gefeiert.

Später erhielt Warner vom König von Tonga die Erlaubnis, Krabben in tongaischen Gewässern zu fischen. Er kaufte ein Fischerboot, nannte es Ata und heuerte die Sechs als Crew an. Dieses Foto zeigt die Gruppe:
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https://twitter.com/rcbregman/

Peter Warner starb im April 2021 beim einem Bootsunfall als Neunzigjähriger. R.i.P.

Ich erzählte das, da es zeigt, dass noch nicht alle Hoffnung für die Menschheit verloren ist. Anders als Golding glaubte, ist der Mensch nicht zwangsläufig böse. Rutger Bregman dazu, der die Überlebenden 50 Jahre später aufgespürt und interviewt hatte:

Es wird Zeit, dass wir eine andere Art von Geschichte erzählen. Der wahre "Lord of the Flies" ist eine Geschichte über Freundschaft und Loyalität, eine, die zeigt, wie viel stärker wir sind, wenn wir uns aufeinander verlassen können.

Sollte nicht diese reale Geschichte auch in den Schulen unterrichtet werden, nicht nur die gewalttätige Fiktion?

Quellen:
https://www.watson.ch/wissen/history/309295157-lord-of-the-flies-in-echt-wie-6-jungen-auf-einer-insel-ueberlebten
Rutger Bregman, "Humankind: A Hopeful History"

Das ist die Original-Doku aus 1966, die Warner mit den 6 Teenagern selbst gedreht hatte (ca. 10min.):

Und hier noch die sehr berührende Erzählung von Peter Warner viele Jahre später, wie es war, als er sie gefunden hatte (ca. 3min.):

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