Das Voynich-Manuskript

Liebe Leser,
das Voynich-Manuskript ist, nach Einschätzung vieler, die mysteriöseste Handschrift unserer Zeit. Es ist in einer unbekannten Sprache verfasst und bis heute ist es trotz zahlreicher Versuche niemandem gelungen, es zu entziffern.
Benannt wurde es nach Wilfrid Michael Voynich, einem polnischen Bücherhändler, der es 1912 aus dem Besitz von Jesuiten gekauft haben soll, aber das Manuskript hatte davor viele andere Besitzer, unter anderem auch Rudolf II. (1552-1612).
Aufgrund einer Radiokarbonanalyse (aus dem Jahr 2009) und Hinweisen aus Frisuren und anderen Merkmalen bei den Illustrationen vermutet man, dass das Manuskript zwischen 1400 und 1450, möglicherweise in Oberitalien, verfasst wurde, das damals ein Zentrum des Gelehrtentums und der Kryptologie war (1). Dadurch scheidet Roger Bacon aus, den einige für den Autor gehalten hatten, unter anderem Voynich selbst. Denn der englische Universalgelehrte Bacon hatte im 13.Jhd gelebt.

Ansonsten ist man bis heute völlig ratlos über die ca. 240 erhalten gebliebenen Seiten voller Text und Abbildungen, die auch keinerlei Hinweise über den Autor enthalten. Die Blätter sind in recht gutem Zustand (16 Seiten fehlen allerdings) und in schlichtes Pergament gebunden, ohne jegliche, damals übliche Verzierungen und Ledereinbindung.
Seit 1969 befindet es sich im Besitz der Yale University und wurde dort vollständig digitalisiert (2).

Durch die Art der Zeichnungen wurde das Manuskript eingeteilt in verschiedene Kapitel oder Sektionen. Über den Zweck oder die Absicht kann man nur spekulieren.

Hier ein Teil der "botanischen" Sektion, über 100 Seiten mit teils sehr sorgfältigen Pflanzendarstellungen mit Beggleittext, in einer Aufmachung, die den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kräuterbüchern ähnelt:
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Keine der Zeichnungen konnte eindeutig einer existierenden Pflanze zugeordnet werden - unzählige Botaniker haben sich hieran die Zähne ausgebissen, vergeblich. Erschwert wird das Unterfangen zusätzlich durch den Umstand, dass mittelalterliche Pflanzendarstellungen nicht zwangsläufig möglichst naturgetreu waren, sondern eher das Wesen der Pflanze im Sinne seiner Heilkraft oder typischer Charakteristika unterstreichen sollten! Manche haben vermutet, dass der Garten Eden dargestellt worden sei oder ein außerirdischer Planet.

Paul Weiler (3) glaubt, dass die Pflanze links aus dem Voynich-Manuskript dem Gefleckten Schierling (Conium maculatum) (Mitte, Quelle) entspricht, einer der giftigsten einheimischen Pflanzenarten ("Schierlingsbecher").
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Rein oberflächlich sind viele Details falsch, aber gerade einige Merkmale, die den Gefleckten Schierling von verwandten Pflanzen unterscheiden, könnten vom unbekannten Autor übertrieben dargestellt worden sein, z.B. die rotgefleckten Stängel (rechts im Detail).

Andere halten diese Pflanze für eine Sonnenblume.
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Aber Sonnenblumen wurden erst durch Christoph Kolumbus nach Europa gebracht, das Manuskript war da schon längst geschrieben worden.

In der "astronomisch/kosmologischen" Sektion kommen offenbar auch 12 Tierkreiszeichen vor, wie hier der Widder, allerdings umgeben von seltsamen konzentrischen Kreisen mit Frauen in Zubern.
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Danach kommt eine völlig rätselhafte "anatomisch-balneologische (=bäderkundliche)“ Sektion, die meist Gruppen nackter Frauen darstellt, die in Becken oder Wannen sitzen, die durch Leitungen oder Röhren verbunden sind.
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Man hat spekuliert, ob es sich um einen Abtreibungsratgeber handelte, da die Frauen meist Bäuche wie bei Schwangeren aufweisen. Oder die Frauen sind Symbole für Leben und Erneuerung/Fruchtbarkeit und die Leitungsbahnen sind das eigentlich Wesentliche, in denen die Essenzen (aus den Pflanzen aus Kapitel 1) zirkulieren?

Es folgt eine „pharmazeutische“ Sektion, die Pflanzen und Pflanzenteile zeigt sowie Gefäße, die an von Apothekern verwendete Behältnisse erinnern.
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Die letzte Sektion enthält keine Abbildungen, sondern Textpassagen, jeweils mit einem Stern-Symbol eingeleitet. Man hat vermutet, dass es sich dabei um Rezepte für Medikamente oder sonstige Vorgehensanweisungen handelt.
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Typische Stelle mit Text.
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Bei dem von links nach rechts geschriebenen Text scheint es sich um eine natürliche Sprache zu handeln, mit Zeichen, die häufiger sind und anderen, die seltener vorkommen. Manche "Buchstaben" kommen fast nur am Wortanfang vor, andere nur an einem Wortende. Satzzeichen gibt es keine. Insgesamt wirkt der Text ausgewogen und wie flüssig geschrieben, nicht wie eine synthetische Aneinanderreihung codierter Zeichen. Mehrere Autoren vermuten dagegen, dass die Vokale der Ursprungssprache ausgelassen wurden und die Wörter Anagramme darstellen. Es wurden auch 2 verschiedene Handschriften unterschieden, gab es also 2 Autoren oder Schreiber?

Man hat versucht, die einzelnen Glyphen (es kommen im Manuskript ca. 170.000 vor) in ein Alphabet der unbekannten Sprache zu sortieren, dabei hat sich nach mehreren Ansätzen das sog. EVA (European Voynich Alphabet) durchgesetzt:
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https://de.wikipedia.org/wiki/Voynich-Manuskript
Das bedeutet natürlich nicht, dass die Zeichen tatsächlich den lateinischen Buchstaben entsprechen, sondern dient nur der Katalogisierung! Denn wie sonst sollte man das Zeichen, dass unter "p" eingeordnet ist, überhaupt nennen? Die Großbuchstaben haben auch keine Bedeutung, sondern markieren nur verschiedene Subtypen eines Zeichens (oft mit einer Querlinie versehen).
Interessant ist, dass manche Zeichen eher lateinischen, andere eher arabischen Zeichen ähneln.

Einen möglichen Hinweis liefert die allerletzten Seite. Dort befinden sich drei Zeilen eines anderen, im 15.Jhd in Deutschland verwendeten Schrifttyps, daher hat man diese Passage "Schlüssel" genannt.
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Der Name "Schlüssel" scheint allerdings zu optimistisch gewählt, da man noch nicht einmal weiß, aus welcher Sprache der Text verschlüsselt wurde, lateinisch, wie viele vermuten (3), oder hebräisch, wie eine KI herausgefunden haben will (4) und auch der deutsche Ägyptologe Rainer Hannig, der kürzlich verstarb, postuliert hatte (5). Andere wieder behaupten, das Voynich-Manuskript stamme aus Mexiko und sei in der Aztekensprache Nahuatl verfasst (6).

Erschwerend ist sicher, dass im frühen 15.Jhd. Sprachen und Dialekte gesprochen wurden, die heute ausgestorben sind. Das und die Absicht, den Inhalt zu verschlüsseln mit dem damaligen Wissen der Kryptologie (mehr darüber an anderer Stelle).

Oder, wie manche vermuten, es handelt sich um eine reine Phantasie- bzw. Pseudosprache, ausgedacht, um damalige Gelehrte reinzulegen oder/und um das Werk an einen an Geheimkunde oder Alchemie Interessierten für viel Geld zu verkaufen (die Hoax-Hypothese). Der Aufwand und die Mühe, die in die vielen Abbildungen gelegt worden ist, erscheinen aber unverhältnismässig hoch gewesen zu sein. Und hätten die Fälscher (es waren mindestens 2) nicht einen weit prächtigeren Einband angefertigt? Für die Hoax-Theorie spricht zumindest, dass der Text, der keinerlei Korrekturen aufweist, fast immer bis zum Zeilenende reicht und dass es mehreren Kryptologen gelungen ist, mit simplen Algorithmen Texte zu erzeugen, die die mathematischen Eigenschaften des VM aufweisen (7,8). Dagegen spricht aber zum Beispiel, dass bestimmte Wörter in kontextbezogenen Clustern angeordnet sind, neue Wörter erstmals in neuen Abschnitten auftauchen, und andere Besonderheiten im Text, die für eine Fälschung im 15. Jhd. sehr ungewöhnlich gewesen wären.

Oder stellt das VM den frühen Versuch einer konstruierten oder Plansprache dar, wie einige vermuten? Das würde zumindest erklären, warum manche Texteigenschaften denen natürlicher Sprache ähneln und gleichzeitig, warum sämtliche Entschlüsselungsversuche bis jetzt nicht überzeugen konnten (eine Plansprache zu rekonstruieren, ohne das Konstruktionsprinzip zu kennen, ist noch schwieriger bis unmöglich).

Rätselhafter als die Sprache ist für mich aber, was es mit den seltsamen nackten Frauen in den Badewannen und mit den kommunizierenden Gefäßen auf sich hat. Meines Wissens muss das damals völlig abartig gewesen sein - und ist es auch heute noch...

Mehrere Leute behaupten von sich, das Rätsel gelöst zu haben, einige davon haben ihre Erkenntnisse auch publiziert (3) oder ins Netz gestellt (5) (einmal mit lateinisch, das andere Mal mit Hebräisch als Grundlage des Textes - zumindest einer der beiden muss sich irren). Aber wer darin eine lesbare Übersetzung sucht, kann lange warten.
Zum Beispiel soll laut Hannig (5) der erste Absatz des Manuspripts (oben, transkribiert in EVA (Mitte)) das Folgende auf Deutsch heissen (unten):
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Laut zwei Kryptologen der Universität von Alberta soll der erste Satz dagegen heissen: „Sie sprach dem Priester, [dem] Mann des Hauses, mir und [dem] Volk Empfehlungen aus.“ (4).

Ich bin nicht überzeugt davon. Ihr?
Ich bin eher in Anhänger der Hoax-Theorie. Was ist Eure Meinung über das Voynich-Manuskript?

Quellen:
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Voynich-Manuskript
(2) https://collections.library.yale.edu/catalog/2002046
(3) Paul Weiler: "Die unglaubliche Enträtselung des Voynich-Manuskripts", Eigenverlag 2020, ISBN-13 ‏ 979-8640847307
(4) https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2018/02/hat-ein-algorithmus-das-voynich-manuskript-entschluesselt
(5) https://www.rainer-hannig.com/app/download/15835537224/Voynich_Hebr%C3%A4isch_von_Rainer+Hannig_7_6_20.pdf?t=1591559575
(6) https://www.focus.de/wissen/experten/schmeh/aufsehenerregende-forschungsarbeit-zum-voynich-manuskript-forscher-wollen-voynich-manuskript-entraetselt-haben_id_3586692.html
(7) https://texperimentales.hypotheses.org/1767
(8) https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/01611194.2019.1596999?journalCode=ucry20

Alle Scans aus dem Manuskript stammen aus (2).

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