… aber es schmerzt nicht mehr

Mein Kind leidet unter …

In den letzten Tagen stürzten sich die verschiedensten Medien auf die Ergebnisse einer Studie, die da besagt, in Coronazeiten (vereinfacht ausgedrückt) haben unsere Kinder das Lesen verlernt.
Werden die Eltern vom Lehrpersonal daraufhin gebeten, ihr Kind doch bitte zu Hause beim Lesen zu unterstützen, behauptet die Mama am nächsten Tag zur Nachbarin:
„Stell dir vor, unsere Pauline leidet unter LRS. Und bleibt aber auch gar nichts erspart.“
Die Antwort erfolgt prompt:
„Und unser Lars an Dyskalkulie. Die Nachhilfe, und das weiß ich jetzt schon, wird auch nicht billig.“

Jetzt frage ich mich nur, wie nennt man das in Fachkreisen, wenn Eltern ein ausgeprägtes Erziehungsproblem mit sich umhertragen?
Oder muss Pauline ihrer Freundin diese Diagnose mit folgenden Worten vermitteln?
„Meine Eltern haben eigentlich kein Kind. Alles, was die haben, ist einen an der Waffel.“


Die linke Schlaghand

Sie hinterlässt Wunden - aber es schmerzt nicht mehr.

Kannst du dich noch erinnern, an meinen ersten Gang zum Kindergarten?
Plötzlich fern ab von den lieb gewonnen Onkeln und Tanten in der Nachbarschaft,
in deren Zuneigung ich täglich ausgiebig baden durfte.
Stattdessen ein ganzer Kilometer Fußmarsch, mit einer dubios geschmierten Doppel-Stulle im Handgepäck, einfach ins Unbekannte stolpern.
Wo warst du in dem Moment?
Ich kann dir nur so viel sagen:
Auf jeden Fall nicht neben mir.

Oh Entschuldigung, ich vergaß, du hattest gerade keine Zeit.

Ich hatte ganz einfach keine Lust auf Kindergarten.
Mutti meinte nur lapidar: „Zweimal gehe ich mit - beim dritten Mal gehst du alleine.“
Auch sie schien schon damals nicht sonderlich viel Zeit zu haben.
Ich sah jedenfalls den Augenblick gekommen zur ersten, spontanen Rebellion.
Sie scheiterte kläglich an einem handfesten Argument.
Denn deine linke Schlaghand traf mich rechts am Kopf.
Und das auch noch mit voller Wucht.
Danach gab es weder Geschrei noch Gezeter.
Dieser eine, kurze Kilometer war doch wirklich lächerlich.
Mir ist es vorher einfach nicht so bewusst gewesen.

Kannst du dich erinnern, mein erster Gang zur Schule?
Fern ab von den lieb gewonnenen Freunden im Kindergarten.
Doch da half auch kein Jammern. - Das war mir klar.
Der nächste Stellungswechsel war angesagt.
Der Fußmarsch am Morgen verkürzte sich zwar um 200 Meter.
Doch anstatt des kleinen Handgepäcks mit der unsäglichen Stulle, hing plötzlich ein ganzer Ranzen auf meinem Rücken.
Ehrlich gesagt, fühlte ich mich nicht bereit für dieses Abenteuer.
Wo warst du überhaupt im Moment, als ich im großen Klassensaal stand und einen Kompass dringend gebraucht hätte.

Oh Entschuldigung, ich vergaß, du hattest an diesem Tag gerade keine Zeit.

Doch ich hatte gelernt.
Es war noch nicht die Zeit der Rebellionen.
Ich fügte mich in die vorgeschriebenen Bahnen ohne Wehklagen.
Besser das schwere Gepäck auf meinem Rücken,
als die linke Schlaghand donnernd einschlagend rechts an meinem Kopf.

Kaum akklimatisiert im Klassenverbund, wird auch dieses Wohlbefinden als kontraproduktiv eingestuft.
Vollkommen klar - der Junge muss auf das Gymnasium.
Soll er etwa in der Einfachheit verderben?
Also hin zur Aufnahmeprüfung!
Wurde der Hauptdarsteller in dem inszenierten Drama gefragt?
Natürlich nicht!
Mit zehn Jahren ist man einfach noch nicht stimmberechtigt.
Und das Drehbuch schreiben die Erwachsenen.
Ach, hatte keinerlei Lust auf einen Aussortierungswettbewerb.
Ich wollte lediglich bei meinen Freunden bleiben.
Doch die Sache war beschlossen.
Ab in die fremde Stadt.
Eingekerkert in die riesengroße, überfüllte Aula,
Und dann auch fast nur fremde Menschen um mich herum.
Wo warst du eigentlich in diesem Moment?
Du, die Antriebsfeder, die mich in diese Aula trieb.

Oh Entschuldigung, ich vergaß, du hattest an diesem Tag gerade keine Zeit.

Der Tag, der Sinn, der Zweck – in deinen Augen bedeutungslos.
Nur das Resultat ist von Bedeutung.
So trenne die Spreu vom Weizen, bevor der wache Geist im Sumpf der Ignoranten erstickt.
Ein Scheitern meinerseits schien vollkommen ausgeschlossen.
Spannend erwartet wurde nur auf die Liste der Gescheiterten.
Niemand interessierte sich für meine Gefühle.
Es bedeutete ganz einfach:
Ab jetzt keine 800 Meter mit Grundschulranzen.
Sondern fünf Kilometer auf dem Weg zur Offenbarung.
Schon wieder hatte ich keine Lust auf Rebellion.
Mein Kopf gierte inzwischen geradezu zur Aufnahme in eine entmilitarisierte Zone.
Zu viele kleine Scharmützel im Alltag.
Einfach nur Ruhe bewahren und auf familiäre Geborgenheit hoffen.
So einfach formulierte ich mir meine Losung.

Ich hatte große Hoffnung auf etwas Beständigkeit in meinem Alltag.
Schließlich lagen neun vorzementierte Jahre vor mir.
Also alle Zeit der Welt jeden Morgen und jeden Mittag alle Bordsteine oder Telefonmasten auf meinem langen Weg zum Vorzeigesohn zu zählen.
Überraschend schnell wurde mir erklärt, wie man um sechs Uhr in der Früh, ohne die unantastbaren Strippenzieher der Familie zu irritieren, sich ein Müsli selbst zubereiten kann.
Wer steht auch schon freiwillig so früh auf, wenn man bis spät in die Nacht die Weltpolitik auf kommunaler Ebene zu revolutionieren versucht hat?!
Ich nahm es hin und genoss die Ruhe, da sie nur bis zum frühen Nachmittag halten sollte.
Denn dann erwartete mich kein herzliches Hallo mit Umarmung und Kuss auf die Wange.
Aber dafür ein Mittagessen aus der Warmhaltedose.
Alles gemischt. - Halt wie schon mal gegessen.
Was soll's. Ich war eben der Letzte, der von der „Arbeit“ kam.
Beamtete Lehrer haben kürzere Arbeitszeiten als Quintaner.
Denn wichtig war auch nicht wirklich die Ernährung.
Sondern die Leistung, die der Sohn erbrachte.
Es wurden Grenzen gezogen, Richtlinien aufgestellt und strikte Gesetzte verabschiedet.

Kurzgefasst: Sei besser als der Rest!

Ich äußerte lediglich beiläufig meine Bedenken und scherte mich, je älter ich wurde, wenig um abstrakte Erwartungen.
Genau das war zu viel der Selbstständigkeit.
Es war ganz einfach mal wieder an der Zeit.
Und so traf mich, dank langjähriger Erfahrung nicht gänzlich unerwartet, die linke Schlaghand satt rechts und dabei voll im Gesicht.
Übrigens, wo warst du eigentlich, als ich meine erste Reckübung vor großem Publikum turnte?

Oh, ich vergaß, an diesem Tag hattest du gerade keine Zeit.

Mit Turnen ist ja auch kein Blumentopf zu gewinnen.
Der Mann spielt Fußball und springt nicht mit langen, elastischen Hosen weltfremd auf dem Boden herum.
Sport wird nur wahrgenommen, wenn viele Männer in verschiedenen Trikots einem aufgepumpten Leder hinterherrennen.
Ich gehorche und renne mit.
Und siehe da, plötzlich bist du dabei.
Erstmals verfolgst du bewusst, was ich zu einem Erfolg beitragen kann.
Die Niederlage bleibt wie stets ausgeschlossen.

Das erste Mal hattest du Zeit. - Und jetzt war es mir plötzlich vollkommen egal.

Das Lob.
Der Erfolg.
Erfüllung aller Sehnsüchte und Wünsche.
Alles hatte und hat seine Magie verloren.
Zu lange habe ich Bordsteine und Telefonmasten gezählt und auf emotionale Wunder gehofft.
Meine Wünsche stehen noch immer nicht zur Debatte.
Ich habe und sollte gehorchen.
Nach Außen gibt man sich weltoffen und demokratisch.
Für aufmüpfige Kinder werden Regeln innerfamiliär außer Kraft gesetzt.
Bevor ich also jetzt noch einmal stillstehe.
Im Sinne des Oberbefehlshabers demütig, ergeben meiner Strafe entgegensehe.
Wage ich lieber die Fahnenflucht.

Irgendwie hatte ich mir Familie ganz anders vorgestellt

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