Fast ein #Mittwochsquickie zum Thema „damals“ (Kurzgeschichte)

Da ich nun wieder zu spät dran bin, dachte ich mir, dass ich auch gleich etwas länger daran sitzen und eine Geschichte daraus spinnen kann. Nächste Woche versuche ich es dann wieder mit einem richtigen Quickie.

Ich hoffe, ihr habt Spaß beim Lesen.


Die Zeitung raschelt leise, als ich sie auf den Tisch sinken lasse. Rosalie. Die Erinnerung schleicht sich aus einem Teil meines Hirns, der schon lange nicht mehr so gut funktioniert hat wie in diesem Moment.

Sie war das schönste Mädchen im Raum. Eine Blume zwischen Hühnern, Linoleumboden und gekachelten Wänden. Der elektrisierende Moment, als ihre Finger meine zum ersten Mal berührten. Der Pfirsichhauch auf ihren Wangen. Das scheue Lächeln unter gesenkten Wimpern. All dies ließ mein hoffendes Herz rasen. Sie fühlte sich besser an, als jemals eine Frau zuvor. Obwohl ich Mühe hatte, sie im Takt der blechernen Musik über die Tanzfläche zu führen. Sie schien nicht oft zu tanzen, wusste kaum, wo sie die kleinen Füße aufsetzen sollte. Einen Moment lang dachte ich daran, sie aus meinen Armen und aus dem Pulk von Paaren um uns zu entlassen. Doch ich konnte es nicht. Zu köstlich war ihre Nähe, zu berauschend der Duft nach Seife und Jugend.

Das Zeitungsfoto wird ihr nicht gerecht. Es verheimlicht dem Betrachter das Funkeln ihrer Feilchenaugen, behält die Farbe der geschwungenen Lippen für sich und hebt die feinen Linien an den Augen hervor, als handle es sich um Ackerfurchen. Das Bild beleidigt ihre Schönheit auf eine Art und Weise, die mich wütend macht. Wütend auf den Fotografen, auf den Redakteur der Zeitung und auf die Zeit, die verhindert hat, dass die frisch aufgeplatzte Knospe erhalten blieb. Rosalie.

Die Menschen um uns verschwammen, während ich auf ihren Mund starrte. Ich erinnere mich heute kaum noch, worüber wir sprachen und es war auch damals nicht wichtig für mich. Nur die Bewegung der rosafarbenen Blütenblätter zählte. Ich tat interessiert, stellte Frage über Frage, damit sie nur nie stillstünden. Und sie redete. Erst zaghaft, dann immer forscher und am Ende sprudelten die Worte wild wie ein Gebirgsbach hervor. Tanz um Tanz lauschte ich ihr. Unsere Bewegung endete erst, als sie, ob ihrer schmerzenden Füße, das Gesicht verzog. Die Oberlippe gekräuselt sah sie unter dichten Wimpern zu mir hoch. Ein unschuldiger Puppenblick, die letzten Überreste einer ausklingenden Kindheit.

Meine Hand fährt kraftvoll auf den Tisch nieder. Sie trifft auf die grobkörnige Abbildung des feinen Gesichts. Voller Reue streichle ich mit den Fingerspitzen über die so altbekannten Züge. Doch das Papier ist kalt und rau. Ihre Haut war warm und weich. So weich. Rosalie.

Ich führte sie hinaus in den Park. Auf einer Bank sitzend zeigte ich ihr die Sterne, von denen sie doch der hellste war. Meine Fingerspitzen kribbelten, als sie ihre Wange streiften. Schnell zog ich sie zurück. Zu groß war die Furcht, jede Berührung könnte die samtige Haut verletzen, könnte die natürliche Perfektion zerstören. Ich wollte mich erheben, wollte mich entschuldigen, wollte für immer gehen. Doch ihr Blick hielt mich stumm auf dem lackierten Holz. Keine Puppe mehr, keine Unschuld und bestimmt kein Kind. Etwas in ihrem Ausdruck hatte sich gewandelt. Ich glaubte, Begehren zu sehen. Vermutlich war es nur die Neugierde eines Mädchens auf der Schwelle zur Frau.

Ich schließe die Augen. Versuche, mich daran zu erinnern, was ich gedacht habe, als meine Lippen ihre berührten. Nichts. Es ist weg, wie so vieles weg ist, dass ich einmal gedacht, getan oder geglaubt habe. In diesem Moment bin ich sogar sicher, dass das Vergessen mit ihr angefangen hat. Rosalie.

Ich trank ihre Seufzer, zeigte ihr Sternbilder, die man nur sehen kann, wenn der Blick nach innen gerichtet ist, und half ihr, den Puppenblick abzustreifen. Sie war zwar kein Mädchen mehr, doch ich war längst ein Mann. Weshalb sie ihr Geschenk ausgerechnet mir gab, war mir ein Rätsel. Es war ohnehin egal. Seit ich sie an diesem Abend auf die Tanzfläche geführt hatte, war mir klar gewesen, dass ich nicht länger ihr Lehrer und sie nicht mehr meine Schülerin war. Und doch lehrte ich sie nun eine neue, eine aufregende Lektion. Sie nahm sie mit derselben Aufmerksamkeit auf, mit der sie mich in ihrem Schoss begrüßte.

Ich sehe auf meine Hände hinab, die noch immer auf der Zeitung ruhen. Fleckige Haut über von Arthrose krummgebogenen Fingern. Sind es wirklich diese Hände, die Rockschnüre gelöst und festes Fleisch geknetet haben? Was würde sie wohl sagen, wenn sie mich so sähe? Gebeugt von der Last der Jahre und Erinnerungen. Rosalie.

Wichtiger als jeder Lehrstoff war das, was ich ihr früh am Morgen beibrachte. Schweigen. Über die Geschehnisse unter diesem erstaunlichen Sternenhimmel, ihr törichtes Verhalten, mit dem sie sich in diese Situation gebracht hatte, und über meinen Namen. Das war überhaupt das Wichtigste. Sie merkte schnell, dass ich keineswegs gewillt war, sie zu heiraten. Beinahe schmerzte es mich, zu sehen, wie die Hoffnung in ihren Augen starb. Wie sie alle Wärme mitnahm, die in den vergangenen Stunden aufgeglommen war. Doch ich durfte nicht schwach sein. Ich musste an meine Zukunft, an meine Verlobte denken. Sie verstand es nicht, sie war eben doch noch immer ein Kind.

Eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel. Lange Zeit dachte ich, sie hätte genug für uns beide geweint. Doch nun kriecht dieser salzige Tropfen über meine Wange. Am Kinn verharrt er einen Moment, ehe er auf ihre Abbildung hinab fällt. Nun weinen wir beide. Sie um den Verlust der Liebe, die sie nie hatte. Und ich? Vielleicht weil ich vieles bedauere, vielleicht auch nur um des Weinens willen. Ich wische die Träne und etwas von der Druckerschwärze von ihrer Wange. Krebs. Eine Schande. Sie war so schön, so puppenhaft und sie roch einst so gut. Wie gerne würde ich sie noch einmal riechen. Doch es wäre wohl nicht mehr dasselbe.
Nichts ist mehr wie damals, als wir uns liebten. Ich und das Mädchen, dessen Namen mir nun nicht mehr einfallen will.

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