Anarchismus ohne Adjektive - Interview mit Keith Preston (Teil 1)

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Ist eine anti-autoritäre Allianz möglich?

Keith Preston ist ein Blogger aus den USA, der politisch nicht leicht einzuordnen ist. Einerseits verortet er sich links von Karl Marx, andererseits hält er Reden vor dem identitären „National Policy Institute“. In seinem Buch „Attack The System – A New Anarchist Perspective For The 21st Century“ plädiert er für einen neuen anti-etatistischen Weg, welcher der Vielfalt von staatskritischen Strömungen Rechnung trägt, und positioniert sich klar gegenüber der gleichmacherischen Linken mitsamt ihrer politischen Korrektheit und ihrem „totalitären Humanismus“. Er betreibt die Webseite AttackTheSystem.com, welche dabei helfen soll, verschiedene anti-autoritäre Strömungen zu einer gemeinsamen Bewegung zu vereinen.

1 - In Ihrem Buch „Attack the System“ beschreiben Sie die aktuelle Ideologie des Westens als „totalitären Humanismus“. Was genau meinen Sie damit?

Totalitärer Humanismus ist ein Begriff, den ich vor einigen Jahren von einem Schriftsteller aus der Gegenkultur übernommen habe, der die These vertrat, dass dieses Phänomen des „totalitären Humanismus“ zu einer dritten totalitären politischen Ideologie in den entwickelten Ländern werden würde. Die erste Ideologie war der Kommunismus, welcher vorgab die Arbeiterklasse von kapitalistischer Unterdrückung zu befreien. Die zweite Ideologie war der Faschismus oder Nazismus, welcher glaubte, die Interessen vermeintlich überlegender Rassen und Nationen (..) zu vertreten. Die dritte Ideologie ist der totalitäre Humanismus, der sich als Fürsprecher der ganzen Menschheit inszeniert, in Wahrheit jedoch dieselbe Art von (..) Chiliasmus annimmt, verwurzelt in einer Feindschaft gegenüber einer äußeren Gruppe, und mit denselben Doppelstandards, derselben Verlogenheit und demselben Autoritarismus, die sich allesamt bereits in den früheren totalitären Gruppen fanden.

Davon sehen wir viele verschiedene Beispiele. Lokal können wir beobachten wie der Staat an jedem Lebensbereich herumdoktert, um irgendein therapeutisches, egalitäres oder vermeintlich humanitäres Ziel zu erreichen. Das beinhaltet alles von einem Rauchverbot in Kneipen bis zur zusätzlichen Besteuerung von Nahrungsmitteln (..) und der Inhaftierung von Eltern, die ihre Kinder unbeaufsichtigt draußen spielen lassen. Ebenso gibt es Fälle, in denen Staaten versuchen, lokale Gemeinden, Regionen, den Privatsektor oder die Zivilgesellschaft zu unterjochen, um diesen konkurrierenden Machtzentren vermeintlich fortschrittliche Werte aufzuzwingen. Dies hat den Effekt, dass autonome Bereiche, die zuvor noch ein Bollwerk gegenüber dem Staat waren, langsam verschwinden. Wir sehen, dass Menschen ihre Arbeit oder ihre akademische Position verlieren, weil sie Meinungen äußern, die nicht im Einklang mit der progressiven Lehre sind. Das schlimmste Beispiel dafür ist das, was ich „den Imperialismus der Menschenrechte“ nenne, und bei dem ganze Nationen wie Libyen oder der Irak zerstört werden, angeblich um die dortige Unterdrückung zu beenden.

2 - In Ihrer politischen Entwicklung kamen Sie von der christlichen Rechten zur radikalen Linken, von dort zum Libertarismus und anschließend zur Bürgermiliz. Am Ende dieser Reise nennen Sie sich einen Anarchopluralisten. Welche Weltsicht steht hinter dieser Bezeichnung?

Anarchopluralismus ist ein Begriff, auf den ich erstmals bei dem Anarchisten Sam Dolgoff gestoßen bin. Er war ein Veteran des klassischen Anarchismus des 20. Jahrhunderts und hatte ausführlich über den spanischen Bürgerkrieg geschrieben. Er benutzte die Formulierung „Anarchopluralismus“, um seine Sympathien für eine Reihe von anarchistischen Denkschulen, welche auf die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Arbeiterklasse abzielten, zum Ausdruck zu bringen. Ich gebrauche die Formulierung ähnlich, fasse sie jedoch weiter. Es ist ein Oberbegriff, mit dem ich die gesamte Bandbreite anarchistischen Denkens abdecke, einschließlich libertärer, dezentraler, antietatistischer und antiautoritärer Bewegungen und Ideologien.

3 - In Ihrem Buch stellen Sie diesen Gedanken etwas gegenüber, das Sie „neoliberalen Imperialismus“ nennen. Könnten Sie erklären, was Sie damit meinen

Neoliberaler Imperialismus ist eine Formulierung, die das System der plutokratischen Herrschaft beschreibt, das durch die G20, einzelne, mit Militär- und Handelsblocks verbundene Staaten, die Weltbank, den IWF, die WHO, die UN, NATO und transnationale Unternehmen aufrecht erhalten wird sowie das weitere Netz jener Finanz-, Wirtschafts-, Medien-, akademischer, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die damit verbunden sind. Beispielsweise kontrollieren aktuell 150 Unternehmen nahezu die Hälfte des weltweiten Vermögens und rund 200 Staaten kontrollieren fast die gesamte Oberfläche der Erde.

4 - Wie würde eine anarchopluralistische Bewegung aussehen und welche Strategie würde sie anwenden, besonders vor dem Hintergrund der verschiedenen Auffassungen, die Anarchisten bezüglich Ethik und Privateigentum haben?

Anarchopluralismus würde darauf abzielen, Systeme der politischen und ökonomischen Macht in die Hände von Regionen, Bezirken, freiwilligen Gesellschaften und andere Arten von Gemeinden zu überführen, die, sei es nun individuell oder kollektiv, unabhängig von dem Staat und externen Institutionen wären. Ich betrachte Anarchopluralismus (..) weder als Konzept, das Organisationsformen, ökonomische Strukturen oder Positionen zu sozialen Themen vorgibt, noch als eines, das gewisse Gesellschaftsgruppen oder Wertesysteme verteidigt. Stattdessen sollte der Anarchopluralismus in der Lage sein, viele verschiedene Interessengruppen zu vereinen, von eingeborenen Stämmen, die vormoderne Strukturen bevorzugen, über religiöse Gemeinden und Hippie-Kommunen bis hin zu heidnischen, islamischen, veganen, den Tierrechten verpflichteten und ganz stinknormalen Gruppen.

So wie der Anarchopluralismus verschiedene Wertesysteme und politische Lager vereinen könnte, ließen sich in seinem Namen auch eine Vielzahl von Strategien anwenden. Unter diesen sind Sezessionsbewegungen, welche die Anzahl der souveränen Länder, Regionen und Bezirke erhöhen wollen, die Gründung von Mikronationen und autonomer Kommunen, „Seasteading“, syndikalistische Gewerkschaften und Arbeiterkooperative, Hilfsorganisationen, agoristische Gegenökonomie, ziviler Ungehorsam und die Formierung einer Bürgerwehr, die Nutzung alternativer Währungen, und generell jede Art von Gemeinden, Organisationen oder Aktivitäten, die unabhängig vom Staat funktionieren und auf dessen Verschwinden hinarbeiten. Was ich hier genannt habe, sind lediglich einige Beispiele.

5 - Was ist Ihre größte Kritik an dem Hauptstromanarchismus in den Vereinigten Staaten?

Der Hauptstromanarchismus in Nordamerika ist eher eine jugendliche Subkultur als eine politische Bewegung. In dem Maße, in dem er überhaupt politisch ernstzunehmen ist, konzentriert er sich auf linke Standardthemen und degradiert sich dadurch quasi selbst zu einem lokalen Ableger der Demokratischen Partei. Ein noch ernsteres Problem ist, dass die meisten Anarchisten weder Nietzsches Kritik an der Sklavenmoral noch Stirners Kritik des Humanismus verstanden, geschweige denn es in ihr Weltbild integriert haben. Unter jenen, welche von der im anarchistischen Milieu vorherrschenden Sklavenmoral abweichen, machen viele den Fehler und werden zu Reaktionären. Ein Beispiel wären ehemalige Libertäre, die nun neoreaktionär, ein Teil der Alt-Right oder Faschisten sind. Ich befürworte eine Form des Anarchismus, welche sich der Sklavenmoral gegenüberstellt ohne selbst reaktionär zu werden. Ich schätze, das macht mich zu einem Repräsentanten der revolutionären, post-postmodernen Linken.

6 - In dem ersten Kapitel von „Attack the System“ gehen Sie auf das philosophische Fundament des Anarchismus ein und nennen ausschließlich Denker aus Deutschland: Friedrich Nietzsche, Max Stirner und Ernst Jünger. Lassen Sie uns diese doch einmal durchgehen: Inwiefern hat Nietzsche das Basis für den heutigen Anarchismus gelegt und was kann er uns über die aktuelle Krise des Westens sagen?

Nietzsche war kein Anarchist. Was Nietzsche getan hat, war, eine tiefgründige Kritik am Anarchismus zu formulieren, welche Anarchisten auch heute noch beantworten müssen. Nietzsche sah in der politischen Linken eine modernisierte, säkularisierte Verkörperung der christlichen Moral – denken Sie nur an Gedanken wie „Die Letzten werden die Ersten sein“ -, und betrachtete Anarchisten als eine linke Version von fundamentalistischen Fanatikern. Diese Kritik trifft ins Schwarze und zeigt uns, warum so viele Links-Anarchisten zur regelrechten Verfolgung all jener neigen, die nicht ausreichend progressiv sind und welche so in die Rolle moderner Ketzern gedrängt werden. Deswegen sehen wir wie diese angeblich „anarchistischen“ Antifa-Schläger friedliche Menschen angreifen, die ihr Recht der freien Meinungsäußerung wahrnehmen. Bis Anarchisten diesen Fehler in ihrem Denken wahrnehmen und ihr Handeln dementsprechend anpassen, werden sie nie mehr als ein Vorläufer für jene Art von autoritärem Etatismus sein, welchen ich „totalitären Humanismus“ nenne.

Nietzsche war ebenso der Meinung, dass die westliche Zivilisation auf eine existenzielle Krise zusteuern würde, welche ihren Auslöser in dem Verlust von traditionellen kulturellen, religiösen, moralischen und philosophischen Ideen haben würde, und dass moderne Ideologien einen Versuch darstellten, diese zu ersetzen. Er sah voraus, dass diese Substitute sich als unbefriedigend herausstellen würden und dass die westliche Zivilisation sich am Anfang des 21. Jahrhunderts in einer Krise des Nihilismus wiederfinden würde. Die einzig mögliche Lösung dieser Krise wäre, so Nietzsche, eine „Umwertung aller Werte“, welche wiederum ein individuelles und kollektives Über-Sich-Hinauswachsen bedürfen würde. Ich bin der Meinung, dass Nietzsche die Vorsokratiker und insbesondere die Sophisten als Beispiel dafür sah, welche philosophische und intellektuelle Basis eine post-postmoderne Welt haben könnte. Sollte dies stimmen, käme es gewissermaßen einer Rückkehr zu einem Ursprungszustand gleich. Ich neige dazu, zu denken, dass es das was, was Nietzsche mit der „ewigen Wiederkunft“ meinte.

7 - Was ist mit Stirner?

Stirner war ein Nietzsche sehr ähnlicher Denker, da auch er erkannte, dass, wie er es sagte, „unsere Atheisten fromme Leute [sind]“. Wie Nietzsche sah er, dass der aus der Aufklärung entstandene Humanismus keine Ablehnung der Religion oder des Christentums war, sondern eine Art säkulare christliche Häresie. Ich bin geneigt zu denken, dass Nietzsche von Stirner auf unerkannte Weise beeinflusst war, und dass Nietzsches Übermensch verwurzelt war in Stirners Idee einer Gesellschaft der Egoisten, aus der er solche Übermenschen hervorgehen sah. Außerdem ist es interessant, festzustellen, dass wir heutzutage selbsternannte Egoisten antreffen, die dies nicht verstehen.

8 - Und was ist Ernst Jüngers Beitrag?

Ernst Jüngers späteres Werk ist für die Kultivierung eines philosophischen Anarchismus sehr bedeutsam, insbesondere der Roman „Eumeswil“, in dem er die Figur des „Anarchen“ einführt. Zum Ende seines Lebens war Jünger weniger sozial- oder gesellschaftskritisch, und mehr an der Frage interessiert, wie das Individuum angesichts externer und anhaltender Tyrannei zu innerer Freiheit finden kann. Sein Denken war stark von Stirner beeinflusst und ähnelt in gewisser Hinsicht gar buddhistischen Grundsätzen. Die Kernidee des Anarchen ist einerseits die Ablehnung externer Autorität, andererseits die Akzeptanz innerer Autorität. Die einzige Loyalität des Anarchen besteht gegenüber seinen eigenen Gedanken, wodurch er über eine innere Ruhe verfügt. Eine andere Art, in der Jüngers Denken relevant für den Anarchismus ist, ist sein Kriegsethos und dessen Ablehnung einer Sklavenmoral. Ein Anarchist, der von den Gedanken Nietzsches, Stirners und Jüngers geführt werden würde, wäre kein religiöser Fanatiker, der all jene bestraft, die gegen die Sklavenmoral gesündigt haben, sondern ein Egoist, der einerseits über innere Freiheit verfügen und andererseits als Ausdruck der eigenen Selbstfindung gegen äußerliche Autoritäten kämpfen würde.

Teil 2 des Interviews folgt morgen

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