ADHS in der Allgemeinpsychiatrie

ADHS in der Allgemein-Psychiatrie

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Seit 1999 beschäftige ich mich mit dem Thema Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen bei Erwachsenen. Als Klinikarzt natürlich mit dem Blickwinkel, wie häufig ADHS nun bei stationär behandlungsbedürftigen Patientinnen und Patienten vorkommt. Oder anders gefragt : Wie häufig es nicht erkannt und damit nicht behandelt wird.

Natürlich hat ADHS nicht nur etwas mit Störung oder psychischem Leiden zu tun. Aber immer noch wird zu selten bei Patienten mit länger anhaltenden Beeinträchtigungen der beruflichen Teilhabe bzw. mit ständigen psychischen Problemen an das Vorliegen einer ADHS-Konstitution gedacht. Das Ausmaß der "Lücke" hat mich aber selbst sehr überrascht, ja erschrocken. Denn die Konsequenzen müssten gewaltig sein, wenn die Studie denn die Aufmerksamkeit unter den Kliniker erhält, die sie aus meiner Sicht verdient.

Meine Anfänge waren auch im Bereich Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Dann Essstörungen wie Binge Eating Störung, Bulimie oder Anorexie. Dann ging es weiter zum Themengebiet "Depressionen" bzw. Erschöpfungssyndrome und Burnout. Aber eben auch Schmerzsyndrome bzw. Fibromyalgie und Somatisierungsstörungen sind dann häufig mit ADHS vergesellschaftet. Logo, das Thema Selbstmedikation im Sinne von ADHS und Sucht spielt eine grosse Rolle. Dabei sind nicht nur die stoffgebundenen Süchte zu beachten, sondern besonders auch Computerspielsucht, Glücksspielabhängigkeit oder auch Kaufsucht.
Und gerade in den letzten Wochen habe ich dann unter meinen Patienten häufiger mit dem Thema ADHS und Angststörungen zu tun gehabt.

Aber eigentlich schauen wir (schaue ich) nicht richtig hin. Denn wenn man erst einmal genauer nachfragt, erkennt man (plötzlich?) weit mehr ADHS-Hinweise als man (ich) dann letztlich diagnostizieren und personell dann gut beraten bzw. behandeln könnte.

ADHS kein Thema in der Psychiatrie ?

Um die vorstellte Studie richtig einordnen zu können, muss man ein wenig die bisherige Realität in der deutschen Psychiatrie kennen und einschätzen können. ADHS bzw. das Hyperkinetische Syndrom ist in etwa so bekannt wie die Kochrezepte von Jamie Oliver in der Personal- und Patientenversorgung. Vielleich that man schon mal davon gehört, aber es betrifft uns ja nicht. Und daher machen wir es so, wie wir es immer schon gemacht haben.

Nun wurde in der Studie untersucht, wie häufig bei stationären Patienten in der Allgemeinpsychiatrie in einer offenen Station in Schleswig-Holstein ADHS im Erwachsenenalter diagnostiziert und hoffentlich auch behandelt werden müsste. Der Mitautor Dr. Arno Deister ist nicht irgendwer. Er ist der amtierende Vorsitzende der Hauptgesellschaft der deutschen Psychiater, der DGPPN. Also die Fachgesellschaft, die ansagt, wo es langgeht. Insofern kann man eigentlich an so einer Veröffentlichung nicht vorbei gehen.

Die Ausgangslage

Bis vor wenigen Jahren bzw. bis in die praktische Gegenwart wurde das Hyperkinetische Syndrom bzw. ADHS als eine Kinderkrankheit bzw. Störung der Kinder- und Jugendpsychiatrie angesehen. Man schätzt, dass zwischen 1 und 6 Prozent der Kinder betroffen sind. 5,3 bis 5,7 Prozent in der Allgemeinbevölkerung im Kindes- Und Jugendalter gilt so als Grössenordnung nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Soweit, so gut. Schaut man sich Veröffentlichungen an, die sich mit der Häufigkeit von ADHS im Erwachsenenalter im ambulanten Bereich (also niedergelassene Psychologen und Psychiater) beschäftigen, so gehen die Zahlen schon deutlich in die Höhe. So sollen zwischen 15 und 22 Prozent der ambulant behandelten Patienten bei einem niedergelassenen Psychiater eine klinisch relevante ADHS haben. (Wir wissen natürlich, dass diese Zahlen nie und nimmer in Deutschland auch erkannt oder gar genügend Psychiater zur Diagnostik und Therapie vorhanden sind).

Nun gibt es aber bisher kaum Studien, die sich mit der Häufigkeit von ADHS im stationären Bereich beschäftigen. In meiner Zeit in der Saale Klinik in Bad Kösen hiess es, dass in der direkten Nachbarschaft der Burgenlandklinik zumindest für die Psychosomatik-Patieten ein allgemeines Screening für eine Studie gemacht wurde. Das wäre schon echt klasse ! Ich schaffe es zumindest bei "mir" in Wismar noch nicht, wirklich alle Patientinnen und Patienten sinnvoll auf ADHS zu untersuchen. Wie wir nachfolgend sehen werden, wäre das aber drigend zu fordern.

Die derzeit einzig relevante Studie aus dem Bereich der stationären Psychiatrie stammt aus England. Dort wurde mit einem Screening-Instrument bei der Hälfte (also 50 % !!!!) eine ADHS-Symptomatik vermutet. Aber Screening-Instrumente sind häufig problematisch,da die Überlappung zu anderen psychiatrischen Störungen sehr häufig sein werden.

Die Studie

Für die Untersuchung wurden 192 freiwillig aufgenommene Patienten einer Allgemeinpsychiatrie mit dem HASE-Fragebogenset und einem selbst entwickelten Zusatzfragebogen (u.a. zu Fragen wie Schreibaby oder andere Besonderheiten in der Entwicklung) befragt. Einige wenige Patienten verweigerten die Teilnahme, so dass dann 166 Erwachsenen im Durchschnittsalter von ca 39 Jahren eingeschlossen wurde (102 Frauen, 66 Männer).

Nach dem Screening-Fragebogen des HASE-Sets erfolgte dann durch einen Facharzt bzw. Psychologen die Auswerten von einem Selbstbeurteilungbogen bzw dann die Fremdeinschätzung (einschliesslich der WURS-Scala bzw. dem diagnostischen Interview von Wender-Reimherr).Nach dem Score des Selbstbeurteilungsbogens erfolgte dann noch eine Unterteilung in Schweregrade.
Für die weitere Diagnostik von Depressionen wurde u.a. ein BDI-II eingesetzt, für Persönlichkeitsstörungen u.a. eine SKID-II-Diagnostik gemacht. Zusätzlich erfolgte ein d2-Aufmerksamkeitstest (über dessen Sinnhaftigkeit man unterschiedlicher Meinung sein könnte).
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Die Ergebnisse der Studie zur Häufigkeit von ADHS in der Allgemeinpsychiatrie

Von den 166 Probanden, die in die Studie eingeschlossen werden konnten, hatten 98 und damit erstaunlich hohe 59 Prozent eine klinisch relevante ADHS-Symptomatik !

Leichte Störung (Summenwert: 10–19): 11 Patienten (11,2 %);
mittlere Störung (Summenwert: 20–29): 31 Patienten (31,6 %);
schwere Störung (Summenwert≥30): 55 Patienten (56,1%)

72 Prozent der Teilnehmer hatten einen Verwandten 1. Grades mit ADHS !

In dem eigenen Zusatzfragebogen ging es um die Häufigkeit von Geburtskomplikationen, von Entwicklungsbesonderheiten wie Schreibaby oder Stress / Belastungen der Eltern bis hin zu Trennungen bzw. Missbrauchserfahrungen. Auch Teilleistungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie waren natürlich deutlich erhöht (etwa ein Viertel). Auch Unfälle bzw. häufigere Kopfverletzungen wurden abgefragt. . Hier gab es Auffälligkeiten in vielen Bereichen, wobei man natürlich schlecht Ursache und Wirkung unterscheiden kann.

ADHS und Depressionen

91 der Patienten mit ADHS hatten depressive Symptome
(92,9 %) bei 65 Patienten schwer
(71,4%), bei 11 mittelgradig (12,1%) und bei 15 leicht(16,5%)). 26
der Patienten hatten einen oder mehrere Suizidversuche durchgeführt

Diese Patienten hatten im Durchschnitt in
ihrem Leben 16,1 depressive Episoden durchlebt.

(Nach meiner Erfahrung sprechen eben so häufige "Depressive Episoden" bzw. eher ein Dauerzustand mit ständig erhöhter Kritikempfindlichkeit und Reizbarkeit für eine ADHS-Konstitution.. Auch Stimmungschwankungen bzw. das Gefühl "Anders als die Anderen" in Hinblick auf Selbststeuerung und Alltagsorganisation zu sein sollten an eine ADHS-Symptomatik denken lassen)

Durchschnittlich fand sich bei den Patienten mit ADHS ein BDI-II-Summenwert
von 34,2 (Bereich der schweren depressiven Störung,
da ≥ 29 mit einer SD von +/- 9,5).

Die Autoren sagen aber selber kritisch, dass halt die Patienten speziell wegen affektiver Störungen (also Depressionen, Bipolare Störungen oder Angst) überhaupt aufgenommen wurden. Das könnte zu einer gewissen Verfälschung der Ergebnisse in Hinblick auf Depressionen führen. An der grundsätzlichen Aussage ändert es nicht.

Das bedeutet, dass praktisch jeder der positiv erkannten ADHS-Erwachsenen in dem Diagnostikinstrument BDI-II eine relevante depressive Symptomatik hatte. (Über die Unterschiede bzw Besonderheiten von "Depressionen" bei ADHS gäbe es natürlich auch noch viel zu schreiben).

ADHS und andere psychiatrische Störungen

Auch andere psychiatrische Störungen bzw. ein Restless-Legs-Syndrom waren deutlich erhöht

Die Patienten mit ADHS
litten häufig an bipolaren Störungen, paranoiden Schizophrenien,
Angststörungen, emotional-instabilen und zwanghaften Persönlichkeitsstörungen,
Teilleistungsstörungen, Nikotinabhängigkeit,
Substanzabhängigkeiten, Substanzmissbräuchen, Restless-legs
Syndromen, Essstörungen und Adipositas

Hier zeigte sich besonders bei der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (Borderline), aber auch bei der ängstlich-vermeidenden PS und der dependenten Persönlichkeitsstörung eine starke Häufung !

Was heisst das nun eigentlich für die Zukunft im klinischen Bereich der Psychiatrie und Psychosomatik ?

Eigentlich müsste das aber auch für die Zukunft bedeuten : Bei ALLEN Patienten (zumindest) mit Depressionen müsste man eine ADHS-Diagnostik (zumindest aber ein sehr gutes ADHS-Screening) durchführen ! Für meine Klinik hiesse das, dass wir letztlich tatsächlich bei allen Reha-Patientinnen und Patienten eine ADHS-Diagnostik etablieren müssten (wenn denn die Ergebnisse der stationären Psychiatrie auf die stationäre Reha-Psychosomatik zu übertragen wären). Wie ich das dann aber personell bzw. zeitlich bewerkstelligen sollte oder gar eine weitere nachstationäre Behandlung organisieren könnte, weiss ich wirklich nicht... Ein erster Anfang wird wohl ein Screening-Fragebogen für die Teilnehmer meiner wöchentlichen Vorträge zu Depressionen sein können. Aber eine komplette Diagnostik ersetzt das natürlich noch lange nicht.

Letztlich wäre aber erstmal ein komplettes Umdenken unter meinen Berufskollegen im Bereich Psychiatrie und Psychologie zu fordern. Denn wenn man bisher an dem Thema ADHS im Erwachsenenalter so komplett vorbei schauen konnte, wird die Bewertung der Problematik sich nicht innerhalb von wenigen Wochen oder Monaten sondern erst in Jahren verändern. Solange wird aber die Behandlung eben auch noch nicht so sein, dass sich für die Betroffenen mit der Berücksichtigung der ADHS-Konstitution auch wirklich eine nachhaltig andere Erklärung der eigenen Biographie bzw. der lebenslangen Beeinträchtigungen im Bereich des Selbstmanagement und der affektiven Symptomatik ergeben.

Neben einem neuen Störungsbild-Verständnis wären auf Coaching ausgerichtete Therapie-Angebote und natürlich auch eine leitliniengerechte Einbeziehung der Medikation erforderlich.

Quelle : Matthias Miesch, Arno Deister Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in der Erwachsenenpsychiatrie: Erfassung der ADHS-12-Monatsprävalenz, der Risikofaktoren und Komorbidität bei ADHS
Fortschr Neurol Psychiatr
DOI: 10.1055/s-0043-119987

Fotos
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ADHS Dr. Winkler

Ich selber biete im begrenzten Maß eine private ADHS-Ambulanz bzw. auch (Online-)Coaching an. (Kontakt : webpsychiater@gmail.com)

Daneben habe ich einen ADHS-Blog (http://www.adhsspektrum.wordpress.com) bzw eine dazu gehörige Facebook-Gruppe (ADHSSpektrum Dr. Winkler) zur unabhängigen Information über ADHS und Spektrum-Störungen
. Seit mehreren Jahren biete ich Vorträge und Seminare zum Thema ADHS-Spektrum bei Jugendlichen und Erwachsenen an.

Über eine Unterstützung der ADHS-Arbeit über das Social-Crowdfunding Patreon bzw. auch paypal (winkler@adhs.ch) freue ich mich, um auch weiterhin unabhängige Informationen bieten zu können.

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