Weiterentwicklung der Gesellschaft durch Regelverletzung?



Eines der mich am intensivsten beschäftigenden Themen ist stets von Neuem die Frage, inwieweit strikte, zwecks Verbrechensbekämpfung eingeführte Regeln und Gesetze hinsichtlich des mit ihnen verbundene Aufwands, der Kosten, vor allem aber auch in Anbetracht des mit ihnen einhergehenden Eingriffs in die Privatsphäre sowie der Einschränkung von Freiheit und Selbstbestimmtheit des Bürgers gerechtfertigt oder übertrieben, wenn nicht gar völlig unverhältnismäßig seien?

Maßnahmen, bei denen kontrovers um die Wahrung der Balance zwischen den Zielen, einerseits eine möglichst hohe Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten, aber andererseits dennoch die Freiheitsrechte des Individuums zu wahren, gestritten wird, sind beispielsweise die immer lückenlosere (und verdachtsunabhängige!) Überwachung jeglicher Finanztransaktionen zwecks "Bekämpfung von Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Terrorfinanzierung" (Beispiel), der Wunsch der Politik nach automatischer Löschung fragwürdiger Inhalte durch die Betreiber sozialer Netzwerke, die Vorratsdatenspeicherung und mittlerweile gar das Bestreben, Zugriff selbst auf private Chats zu erlangen ("Auch Kriminelle kommunizieren ja, also lasst uns jegliche Kommunikation kontrollieren und protokollieren - aber seien wir ehrlich: Letztlich müsste doch in jedem Gebäude eine staatliche Kamera samt Mikrofon installiert sein, denn auch Terroristen wohnen ja schließlich irgendwo!") oder die erforderliche Bürokratie beim Fliegen oder Einchecken in Hotels, damit der Staat auch immer weiß, wo sich seine Schäfchen gerade aufhalten.

Nun, es dürfte kein Geheimnis sein, dass in meinen Augen das Pendel derzeit sehr (viel zu) weit in Richtung "Überwachung um jeden Preise" ausschlägt und der Kampf um die Wahrung der eigenen Freiheit absolute Priorität genießen sollte. Wie genau ich das sehe, beschrieb ich unter anderem hier.
(Hier noch eine Übersicht über die aktuell in Deutschland implementierten Überwachungsmaßnahmen.)

Heute möchte ich jedoch sogar noch einen Schritt weiter gehen und etwas provokativ behaupten, dass nicht nur die Bekämpfung von Straftaten gegenüber der Achtung von Privatsphäre und Freiheitsrechten des Bürgers nicht priorisiert werden sollte, sondern darüber hinaus ein gewisses Maß an Regelverletzungen und Gesetzesübertretungen sogar zwingend erforderlich für die Weiterentwicklung von Gesellschaften und Vermeidung eines Zustands kristallisierter Erstarrung sind. Harter Tobak? OK, dann lest weiter ...


Überschreitung ungeschriebener Gesetze


Obwohl es nicht der eigentliche Punkt dieses Posts ist, beginnt m. E. die oben erwähnte "Erstarrung" der Gesellschaft schon dort, wo in Diskussionen über kontroverse Themen abweichende Meinungen nicht als Bereicherung und Grund zum Nachdenken sowie Überprüfen des eigenen Standpunkts wahrgenommen werden, sondern als unerwünschte Störungen des eigenen Weltbilds, die in erster Linie unterbunden werden sollten.
Je nachdem, in welchem politischen Milieu man bestimmte Auffassungen vertritt, wird einem entweder höchstes Lob sicher sein oder aber gnadenlose Verurteilung und Verspottung wegen Verletzung ungeschriebener (Meinungs-)Gesetze.

Zur Erstarrung führt das deshalb, weil es kaum noch zu ernsthaftem Meinungs- und Argumentenaustausch zwischen Menschen unterschiedlicher Ansichten kommt, sondern sich die Mehrheit aller Menschen mit ihnen wohlgesinnten Ja-Sagern umgibt - Zustimmung oder Ablehnung von Äußerungen hängt dann davon ab, wer etwas sagt, aber nicht mehr davon, was er sagt, was zu 'Pro-/Contra-Automatismen' unter Abschaltung des eigenen Gehirns führt und dem eigenen Denken nicht gerade neue Impulse verleiht.
Ich sehe da auch keine "Guten" und "Bösen", sondern die Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen dürfte mehr oder weniger gleichmäßig über das gesamte politische Spektrum verteilt sein. Meine Forderung, über divergierende Ansichten zumindest nachzudenken, bedeutet nicht, allem stets zustimmen zu sollen - nein, 'nur' zumindest gedanklich darauf einzugehen und die Äußerung zu akzeptieren, vielleicht auch respektieren, ohne den Überbringer unerwünschter Gedanken persönlich zu attackieren.

Wie so oft, wenn ich einen Artikel schreibe, gibt es auch diesmal einen Auslöser, der sich bereits seit längerem angesammelten Gedanken in Form eines Posts zum Ausbruch verhilft (der sozusagen das Fass zum Überlaufen bringt):
In ZEIT ONLINE fiel mir ein Artikel mit der Fragestellung auf, ob Putin in Südafrika verhaftet werden könne und solle, in welchem Frau Baerbock mit den Worten zitiert wurde:

"Das Völkerrecht macht deutlich: Kriegsverbrecher, Verantwortliche, die Angriffskriege führen, die werden irgendwann zur Verantwortung gezogen"

Ich antwortete darauf sinngemäß (und absolut sachlich-freundlich), dass ich nicht an eine Verhaftung Putins in Südafrika glaube, da die Geschichte etwas anderes verdeutliche: dass für "Angriffskriege" allenfalls derjenige zur Verantwortung gezogen würde, der über zu wenig Macht und Einfluss verfüge - oder hätte etwa George Bush nach seinem "Angriffskrieg" gegen den Irak auch nur das Geringste zu befürchten gehabt? Putin genieße zwar weniger globale Unterstützung als damals George Bush, aber eine Verhaftung hielte ich dennoch für äußerst unwahrscheinlich.
(Was ich nicht schrieb, mich aber immer wieder irritiert, ist die inflationäre Verwendung des Begriffs "Angriffskrieg", da es Kriege ohne Angreifer ohnehin nicht gibt. Das Wort "Angriffskrieg" ist letztlich ein Pleonasmus bzw. eine Tautologie, so als spräche ich beispielsweise im Fußball von einem "Defensivverteidiger" oder einem "Angriffsstürmer".)

Dass ich meinen Kommentar nur "sinngemäß" aber nicht wörtlich wiedergeben kann, liegt daran, dass er einfach so von der ZEIT-Redaktion gelöscht wurde:

Tja, falsche Meinung am falschen Ort - wie soll man aber unter solchen Umständen noch ernsthaft diskutieren können? Ich habe meinen dortigen Account nun löschen lassen.


Missachtung sinnvoller Regeln und Gesetze


Einerseits bestehen sicherlich viele Regelungen und Gesetze in unserer Gesellschaft aus gutem Grund und sind grundsätzlich für ihr reibungsloses Funktionieren essentiell.
Gäbe es beispielsweise keine Ampeln, oder schenkte niemand ihren Signalen die gebührende Beachtung, führte das zu einem allgemeinen Verkehrschaos.

Andererseits sollte sich hinter jedem Gesetz, jeder Vorschrift ein logischer Grund verbergen. Ampeln sind beispielsweise wichtig, um diversen Verkehrsteilnehmern (Autofahrern, Bussen, Radfahrern, Fußgängern) die richtige Reihenfolge beim Überqueren einer Kreuzung zu signalisieren.
Stehe ich jedoch nachts als Fußgänger mit guter Sicht in beide Richtungen vor einer roten Ampel und bin mir sicher, dass sich kein motorisierter Verkehrsteilnehmer in der Nähe befindet, entfällt in diesem Moment der Sinn der Ampel, die Reihenfolge verschiedener Verkehrsteilnehmer zu regeln, und ich überquere, eingetaucht in das protestierend rote Leuchten des Verkehrssignals, die Straße.
Das ist ja genau der Unterschied zwischen einem Hilfsmittel und einem denkenden Wesen, nur letzteres ist dazu in der Lage, den eigentlich Sinn einer Regel zu verstehen ...

Die unbestreitbare Wichtigkeit von Vorschriften bedeutet meiner Ansicht nach nicht zugleich, ihnen roboterhaft, ohne nachzudenken sowie sein Gewissen zu befragen, Folge leisten zu sollen, sondern sie angesichts der jeweiligen konkreten Situation auf ihre Sinnhaftigkeit hin zu überprüfen.


Nichtbefolgung schädlicher Regeln und Gesetze


Immer wieder sind meiner Meinung nach bewusst bestimmte Regeln missachtende Menschen für die Weiterentwicklung von Gesellschaften absolut nötig, um erst mittels des dadurch erzeugten 'Gewöhnungseffekts' für eine hinreichende Akzeptanz ihres Handelns zu sorgen, die dann eine Anpassung der entsprechenden Gesetze ermöglicht.

Beispielsweise hätte es bis zur offiziellen Legalisierung von Homosexualität in vielen moderneren Staaten sicherlich viel länger gedauert, hätten nicht immer mehr Homosexuelle den Mut gehabt, sich trotz Verbots in der Öffentlichkeit als Paare zu erkennen zu geben.
Wie langsam die Entwicklung hin zu mehr Rechten für Homosexuelle z. B. in Deutschland verlief, zeigt diese Übersicht, während in zwölf Staaten immer noch die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen droht.

Auch Frauen, die irgendwann ohne Erlaubnis ihres Ehemanns einfach trotzdem arbeiteten, trieben dadurch den Wandel von Gesellschaften voran, in denen in allen Berufen arbeitende Frauen als völlig normal angesehen werden.
In der Bundesrepublik Deutschland hieß es noch bis 1977 gemäß § 1356 BGB Absatz 1: "[1] Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. [2] Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist."

Es muss immer wieder Individuen geben, die sich sagen "Bestimmte Gesetze und Regeln meines Landes sind aber sowas von falsch bzw. dem sich wandelnden Zeitgeist nicht mehr angemessen, dass es geradezu meine Pflicht ist, mich nicht an sie zu halten!"
Solche Menschen sind es, die oft große Opfer bringen und hohe Risiken eingehen, bis sich irgendwann Erfolge einstellen ... aber ohne sie würden sich die Zustände erst viel später oder niemals ändern.

Auch heute noch zeigt sich in vielen Ländern der Welt stets von Neuem, wie wichtig und zugleich gefährlich es ist, zu denjenigen zu gehören, die bestimmte Gesetze und Vorschriften nicht einhalten:

  • Whistleblower wie (mein persönlicher 'Held') Edward Snowden wissen sehr wohl, in welche Gefahr sie sich dadurch begeben, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Informationen zu verbreiten, sehen sich aber aufgrund ihres Gewissens schlicht dazu gezwungen. Ein Bewusstsein in der Bevölkerung für die Gefahren zunehmender Überwachung zu schaffen, bewerten sie als wichtiger als die Befolgung geltender Gesetze.

  • Wann der zahlreiche Opfer fordernde Kampf von im Iran gegen den Kopftuchzwang und für mehr Rechte aufbegehrenden Frauen belohnt werden wird, steht in den Sternen, aber täten sich nichts (gemäß den dort geltenden Gesetzen Illegales), würde sich niemals etwas ändern!

  • 'Gesetzesbrechern' wie der Afghanin Sidiqa Dawari, die heimlich Mädchen bei sich zu Hause unterrichtete, woraufhin sie von den Taliban ausgepeitscht wurde, die später auch noch einen ihrer Söhne töteten, zolle ich allerhöchsten Respekt.
    Übrigens kommt hier eine der vielen positiven Seiten des Bitcoins zum Tragen, der es Afghaninnen über einen längeren Zeitraum hinweg erlaubte, sich der absoluten finanziellen Kontrolle durch Männer zu entziehen.

  • Derzeit dürfen Männer die Ukraine nicht verlassen und Russland zwingt mehr und mehr Reservisten am Kriegsgeschehen teilzunehmen. Ich kann jeden verstehen, der nicht dazu bereit ist, sich für die Kriegsinteressen seiner jeweiligen politischen Führer selbst opfern zu sollen und sich für das eigene Leben, seine eigene Freiheit entscheidet - gegen die jeweils geltenden Gesetze.

  • Schon Galileo Galilei wurde 1633 aufgrund seiner Feststellung, dass die Sonne sich nicht um die Erde dreht, sondern umgekehrt, als Verräter der kirchlichen Lehre wahrgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt.

  • Auch Beispiele extremen Muts von Menschen, die gegen Hitler oder andere Diktatoren putschten (und dafür in vielen Fällen mit dem Leben bezahlen mussten), dürfen in dieser Aufzählung nicht fehlen!


Wie mutig sind solche Regelbrecher? Wie mutig bin ich? Wie mutig seid ihr?


Was mir im Zusammenhang mit Berichten aus Ländern wie dem Iran oder Afghanistan häufig auffällt, sind vom warmen, sicheren Sofa aus abgesonderte, gefühlskalte Einlassungen in den Kommentarspalten deutscher Zeitungen, wie z. B.:

"Wer einfach so, ohne viel Widerstand zu leisten, die Taliban die Macht übernehmen lässt, verdient kein Mitleid. Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient."

Angenommen, es gibt ca. 200000 Taliban (bei insgesamt knapp 40 Millionen Afghanen), das entspräche auf Deutschland übertragen grob 400000 kampferprobten, den eigenen Tod nicht fürchtenden Terroristen - da würde ich gerne mal unsere 'Sofakrieger' sehen, wie sie mutig in den Kampf zögen ...
Dort leiden Millionen von Individuen, die gerne ein freieres Leben führen würden (und daran ändert sich doch nichts dadurch, dass eine ebenfalls große Gruppe mit den Taliban sympathisiert). Ein Zivilist ist das Kämpfen und Töten nicht gewohnt, und jeder Einzelne, der dort dennoch Widerstand leistet, kann sich meines größten Respekts sicher sein.

Auch im Iran wurde seit 1979 (sehr schön dargestellt übrigens im Zeichentrickfilm "Persepolis") ein perfides, brutales Überwachungssystem implementiert, mit dessen Erschaffung die heute zumeist westlich eingestellte Jugend der Großstädte nicht das Geringste zu tun hat.
Ich bewundere Menschen, die im verzweifelten Bestreben, an diesen Zuständen etwas zu verändern, ihren eigenen Tod in Kauf nehmen, die Gesellschaft braucht sie dringend - aber verlangen kann ich das von niemandem.

Ich selbst traue mich ja noch nicht einmal, die Zahlung des Rundfunkbeitrags zu verweigern (obwohl auch dessen Abschaffung in meinen Augen zur Modernisierung der Gesellschaft beitrüge), und als ich vor vielen Jahren Zivildienst leisten wollte, erzählte ich etwas davon, aus Gewissensgründen niemals mit einer Waffe töten zu können, statt einfach offen zu sagen, nicht einzusehen, mich für Krieg führende Politiker opfern zu sollen. Ja, die Wegbereiter der Möglichkeit, überhaupt den Wehrdienst - den es so mittlerweile nicht mehr gibt - verweigern zu können, gingen für ihre Überzeugung, niemals Teil eines Krieges sein zu wollen, noch ins Gefängnis ...
Mein ziviler Ungehorsam erschöpft sich vermutlich schon darin, mich in Corona-Zeiten nicht an das nächtliche Ausgehverbot gehalten zu haben (meine Nachtspaziergänge sind mir heilig) und 'ketzerische' Posts wie dieses zu verfassen ... und ganz ähnlich dürfte es - seid ehrlich! - vielen von euch gehen, oder?


Abschließende Gedanken


Ich bin kein Anhänger purer Anarchie - zum Funktionieren von Gesellschaften bedarf es zweifellos Regeln und Gesetze - wollte jedoch anhand diverser Gedanken und Beispiele begründen, weshalb ein System hundertprozentiger Regelbefolgung und Gesetzestreue (erzielt durch absolute Kontrolle und Überwachung) m. E. weniger erfolgreich ist als eines, das gewisse Freiheitsgrade der Regelauslegung und -missachtung zulässt.

Abgesehen davon, Gesetze (auch diejenigen, die ich für falsch halte) zumeist zu befolgen, fühlte ich mich im Zweifelsfalle, wenn es hart auf hart käme, zuallererst meinem Gewissen und den Menschen, die mir etwas bedeuten, verpflichtet und erst danach Regeln und Gesetzen.

Und nein, um Missverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen: Spreche ich von "Mut" oder der Notwendigkeit des Regelbrechens, meine ich damit nicht, an Silvester Knallkörper in Menschenmengen zu werfen, illegale Autorennen zu veranstalten oder seinen Müll in den Wald zu kippen ...

Dennoch bleibe ich dabei: "Jede Gesellschaft braucht ihre Gesetzesbrecher, damit es den Fortschritt gibt."

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Ecency