Paradise Found - 2. Kapitel - Richard

Hallo, Menschen!

Dieses 2. Kapitel gehört zu meinem Roman "Paradise Found". Hier findet ihr: Prolog und das 1. Kapitel.

Fortlaufend werde ich werde immer wieder mal zwischendrin eines posten.
Viel Freude beim Lesen!


Viele Kilometer - oder sind es Zeiträume - entfernt...

... beschäftigt sich Richard gedanklich mit der Apparatur, die in seiner Hosentasche steckt. Er blickt über die verregneten Dächer vom Prenzlauer Berg.

Im Tal der Ahnungslosen aufgewachsen, einer Region im Südosten der damaligen Deutschen Demokratischen Republik im ehemaligen Bezirk Dresden, war es Alltag gewesen, sich im Nachteil zu fühlen. Radio- und Fernsehübertragungen aus der Bundesrepublik Deutschland konnten in seinem Land nicht terrestrisch empfangen werden und so hatte Richard als Kind nur zu besonderen Anlässen und in Abhängigkeit von anderen Leuten Westfernsehen konsumieren können.

Die Bewohner dieses Gebiets, das vom Westfernsehen und -UKW-Funk nicht erreicht wurde, galten in den eigenen Reihen als schlecht informiert nach Ansicht all derer, die die westdeutschen Medien im Vergleich zu den eigenen zensierten für die verlässlichere Informationsquelle hielten.

Richard, gleichgültig seinem guten Aussehen gegenüber und eher zurückhaltend in seiner Art, füllte die vielen Plätze in seinem Leben weder mit Sport und Kameradschaft, noch mit Freundinnen. Stattdessen brachte er regelmäßig technischen Schnick-Schnack mit nach Hause. Aus Mangel an moderner Hardware improvisierte er mit günstig erstandenen oder geschenkten defekten Sendegeräten, aus dessen Einzelteilen er sich neue Radios und Fernseher bastelte. In der Hobbywerkstatt seines Vaters Heinz, der damals im Landmaschinenbau sein Brot verdiente, lötete und schraubte er Wochen und Jahre seines jungen Lebens an Bildröhren, Zerhackern für Autoradios, erzeugte Schwingungen und verband Stromkreise miteinander. Mit dem Ergebnis, das seine Eltern die Nachbarn zu ausgedehnten West-Fernsehabenden einluden.

Mit einundzwanzig hatte Richard noch immer keine Freundin,

zum Missfallen seiner Mutter. Mit dem Wegfall der deutsch-deutschen Grenze entschädigte sich Richard auf seine Weise durch die Beschaffung weiter entwickelter elektronischer Geräte. Längst, bevor es Apple gab, hatte er eigene Computer gebaut.

Er beschäftigte sich mit der Relativitätstheorie, mit Zeitdilatation und las alle verfügbaren wissenschaftlichen Artikel, von Ehrenfest bis hin zu Rizzi und Ruggiero, deren jüngste Publikation erst im Jahr 2004 veröffentlicht wurde. Er verglich ihre Erkenntnisse mit seinen eigenen Theorien und wähnte sich auf dem rechten Pfad. Sein Interesse ging früh in Richtung Zeitreisen.

Einmal, noch weit entfernt von einer Umsetzung, hatte er seinem Vater davon erzählt und der hatte genickt und gemeint: „Junge, es ist gut, dass du dich beschäftigst“ und ihm zärtlich über den Kopf gestreichelt. Vollkommen ignoriert hatte er dabei Richards Ausführungen über Paralleluniversen und die vierte Dimension.

Während Brigitte, seine Mutter, sich dem pädagogisch wichtigen Teil der Erziehung widmete, fanden Richard und seine jüngere Schwester Elvira, dass ihr Vater die Ruhe weg hatte, sich selten aufregte oder ein lautes Wort gesagt hätte. Beide sahen sich für ein gewisses mangelndes Interesse ihres unterschiedlichen Intellekts entschädigt, weil Heinz mit ihnen in den Wald ging, ihnen die Namen der Bäume aufsagte, nach Insekten grub und die Fragen, die sie als Kinder hatten, mit großem Herz beantwortete. Manchmal fuhren sie ans Meer, wo sie stundenlang am Wasser wanderten und abends im Zelt schliefen. Ihre Mutter blieb meistens daheim, weil sie sich nicht damit anfreunden konnte, auf einer Luftmatratze zu schlafen und den Küchentisch einem Lagerfeuer vorzog.

Manchmal kam sie mit ihrem Frisierkorb in sein Zimmer, postierte Richard auf seinen Schreibtischstuhl und schnitt ihm dann seine blonden Haare. Sie war Friseurmeisterin und betrieb ihren Salon auch nach der Wende weiter; in zwei Modernisierungen hatte sie bereits investiert.

Mathematik und Sprachen ersetzten Richard Freunde. Er assoziierte die Zahl zweiunddreißig mit einem Tropfen, der ins Wasser fiel und dort Kreise bildete. Die acht erzeugte in seinem Kopf eine Ringschlange und das Jahr neunzehnhundertneunundsechzig eine sehr dunkle, graue, sich abregnende Wolke. Richard lernte fünf Sprachen und konnte sich neben seiner Muttersprache auf Französisch, Skandinavisch, Arabisch, Hebräisch und Japanisch unterhalten. Englisch verleibte er sich ganz nebenbei ein.

Er hatte später über seine Fähigkeiten gelesen, wo man Menschen wie ihn als „Savants“ bezeichnete, so genannten „Inselbegabten“.

Herausragende Fähigkeiten trennen sich säuberlich von spezifischen Defekten im Gehirn.

So hatten sich seine Eltern zunächst mit der Tatsache abgefunden, dass Richards gutes Aussehen eher Perlen vor die Säue war und sie sich lediglich in „unzulänglichem Deutsch“ mit ihm unterhalten konnten. Auch wenn er behauptete, seine Muttersprache sei sehr logisch und elegant und schön, während er teure Telefonrechnungen produzierte, weil ihm die automatischen Bandansagen des Tokioter Flughafens so gut gefielen. Obwohl Richard so unfassbare Talente in sich trug, hatte er nie eine akademische Laufbahn eingeschlagen. Er besaß nicht einmal einen Führerschein, und nach mehrmaligen Versuchen, die vielen dafür notwendigen Abläufe zu koordinieren, stufte er Autofahren für sich als zu gefährlich ein.

Mit sechsunddreißig war Richard endlich von Zuhause ausgezogen und hatte sich eine schicke Loft-Wohnung in Berlin Mitte genommen, die ihm Brigitte ausgesucht und eingerichtet hatte. Das Bett maß einsachtzig mal zwei Meter und war somit Ausdruck der Hoffnung seiner Mutter, dass sich in dieser Richtung vielleicht doch noch etwas bei ihrem Sohn tun könnte. Das Bad hatte eine begehbare Dusche mit in der Mitte abgesenktem Mosaikfliesenboden, die Küche ging über ins geräumige Wohnzimmer, in ihrer Mitte eine von allen Seiten zugängliche Kochstelle. Hinter einer Trennwand befand sich der Arbeitsbereich von Richard. Dort hielt er sich meistens auf.

Um Finanzierungsfragen kümmerte sich gleichfalls seine Mutter.

Angefangen bei der Dresdner Gesellschaft, die sich von ihr frisieren ließ, knüpfte Brigitte zunächst auf lokaler Ebene ein beachtliches Netz. Nachdem sie den Dekan der Dresdner Universität erst einmal an der Angel hatte - seine Frau kam alle drei Wochen zu ihr - weiteten sich ihre Kontakte dramatisch aus. Sie schickte Richard auf Vortragsreihen, in Talkshows, handelte Honorare mit Veranstaltern und Sendern aus und verkaufte Richards Abhandlungen über Aerodynamik, Oberflächenberechnung oder Prozessoptimierung an Fachzeitschriften, die sich um das Material rissen.

Die Termine störten Richard nicht weiter. Er kannte kein Lampenfieber, sprach mit französischen Moderatorinnen eines gehobenen Senders, die regelmäßig in Ohnmacht fallen wollten, wenn er ins Studio kam und je nach Charakter wollüstig oder sehnsüchtig schmachtend an seinen vollen Lippen hingen, in der Gewissheit, diese niemals küssen werden zu können, denn Richard schien an Sexualität ungefähr so viel Interesse zu haben, wie ein Tausendfüßer an dem tausendundeinsten Fuß.

Richard fasst in seine Tasche und holt das kleine rechteckige Gerät heraus. Es ist so groß wie eine Kreditkarte und etwa einen Zentimeter dick. Richard hat ihm einen Namen gegeben: Fänom 1.0.

Vor einer Woche hatte er zum ersten Mal das Zeitreisen ausprobiert.

Seine Schwester hatte ihn dabei erwischt, nachdem er seine Kleider abgelegt hatte und gerade dabei war, sich mit Gleitcreme einzureiben. Er hatte vergessen, dass Elvira ihn übers Wochenende besuchte. Sie wollte mit Freunden zum Fritzclub im Berliner Postbahnhof auf ein Konzert gehen. Seine Schwester: laut, frivol und auffällig. Als Kind hatte sich nicht davon beeindrucken lassen, die Spielzeuge aus dem Westen per se toll finden zu müssen. Schon gar keine Barbie-Puppen, die ihre siebenjährige Freundin mit einem Paket von drüben bekommen und sich dabei Elviras Meinung nach sehr affig aufgeführt hatte, als sie ihre neue Plastikdiva den neidischen Gören aus der Nachbarschaft zeigte. Elvira hatte Barbies verachtet. Sie hatten provokant hervorstechende Brüste und anatomisch entartete Körper, denen man nicht mal die störrischen Haare frisieren konnte. Immer boten die Puppen einen irgendwie grotesken Anblick, wenn sie mit exponierten Unterkörpern in der Zimmerecke ihrer Freundin herum gelegen hatten.

„Richard, was treibst du da?“, hatte Elvira ihn sofort gefragt, als er gerade dabei war, seinen Hintern einzureiben. „Ich creme mich ein“, hatte er geantwortet und während Elvira noch darüber nachdachte, ob sie die Aufschrift „Super Gleitgel“ auch richtig entziffert hatte, fügte er hinzu: „Für wissenschaftliche Zwecke“. „Hast du jetzt doch endlich mal eine Freundin?“, wollte Elvira wissen, war sich aber gleichzeitig sicher, dass das nicht sein konnte. Ihr Interesse erlahmte.

Sie zog nur eine Augenbraue nach oben, schüttelte sich und machte sich daran, die Wohnung zu verlassen, als ihr einfiel, warum sie zu ihm gekommen war: „Ich wollte dich fragen, ob du mir hundert Euro leihen kannst, ich bin total abgebrannt.“ „Nimm's dir aus der Brieftasche, sie liegt wie immer auf der Ablage im Flur“. Das ließ sich Elvira nicht zweimal sagen, nahm das Geld und verschwand kurz darauf, um sich die Kante zu geben und vielleicht jemanden Nettes mit ins schicke Loft zu nehmen. Wo sie morgens ein üppiges Frühstück servieren würde. Elvira hatte in ihren Augen das große Los gezogen: Sie hatte einen großen Bruder, der nicht ganz richtig tickte, damit aber das große Geld verdiente. Klar, dass da was für sie abfiel.

Richard wagte indessen den Selbstversuch.
Er war nur fünf Minuten weg gewesen. Aber es hatte gereicht, um herauszufinden, ob er in einem Stück verschwinden und wieder auftauchen können würde. Er konnte. Er brauchte hinterher fast zwölf Stunden Schlaf, um sich zu erholen und schaffte es kaum ins Bett.

Jetzt aktiviert er das Fänom mit leichtem Fingerdruck. Licht wird in verschiedene Richtungen abgestrahlt, ein leises Summen erfüllt den Raum, dann öffnet sich ein waberndes Fenster, hinter dem die verschwommenen Umrisse von Richards Bücherregal erkennbar sind. Er stellt sich, in Gedanken versunken, davor, macht einen Schritt hinein. Dann ist er weg. Zurück bleibt ein Gürtel, an dem ein kleines Licht blinkt.

Fortsetzung folgt


Photo by Tina Rataj-Berard on Unsplash

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