Sommer '68

Das folgende geschah irgendwann im Sommer 1967 oder 1968, in unserem Dorf.

Wir wohnten in einer Neubausiedlung, ziemlich am Rand des Dorfes. Ich war damals 11 oder 12 Jahre alt.

Die Sonntage waren bei uns still. Es fuhren noch nicht so viele Autos. Sonntags war nichts los. Der langweiligste Tag der Woche. Im Fernsehen guckten wir nachmittags „Ivanhoe“ und „Kater Mikesch“.

An so einem dösigen Nachmittag also vernahm ich von der Straße her Rufe, Schreie. Man hörte damals viel deutlicher als heute, was draußen lief, auch wenn die Fenster verschlossen waren. Die hatten damals noch keine Zweischeibengläser.

Das da draußen hörte sich jedenfalls bedrohlich an. Ein Mann rief immer wieder was, das sehr aggressiv klang, und das kam näher. Ich also hinten durch die Terrassentüre raus und durch den Hof noch vorne geflitzt. Es rannten gerade eine Frau und ein Kind an unserer Einfahrt vorbei, die Straße rauf. Ich schaute die Straße runter und sah den Grund. Ein Mann ging schnellen Schrittes hinter den beiden drein. Brüllte ihnen allerlei aggressives Zeug hinterher - vergessen habe ich bis heute nicht den Ausruf: „Isch hab misch für euch KRUMMGELEESCHT!“ Das schien ihm eine ganz wichtige Aussage zu sein, wie er da so hinter den Fliehenden herschritt. Er rief das immer wieder. Das ist mir dann lange im Gedächtnis geblieben, weil ich damals eigentlich nicht verstand, was das bedeuten soll. Krumm legen? Warum hat er sich denn krumm hingelegt? Kapierte ich damals nicht.

Als der Kerl -starrer Blick, es war ziemlich sicher Alkohol im Spiel- an unserem Gartentor vorbei war, lief ich in respektvollen Abstand hinterher. Die Frau und das Kind gewannen nicht wirklich an Boden. Die Frau lief eher trippelnd, vielleicht wegen der unpraktischen Schuhe, oder aber es war das Kind, das nicht schneller vorankam.

Aus den Häusern guckte hier und da jemand raus, aber niemand sagte was.

Ein Held war ich schon damals nicht. Mir stand eigentlich auch nicht der Sinn danach, einzugreifen. Ich hielt gebührend Abstand und habe sie auch eigentlich nur bis zur nächsten Kreuzung verfolgt. Sah den Kerl irgendwann stehenbleiben, den beiden Verfolgten weiter irgendwas hinterherrufen. Frau und Kind verschwanden dann in einer Seitenstraße. Das schien es gewesen zu sein. Der Typ steckte sich eine Zigarette an.

Später hörte ich von Freunden, dass die Geschichte auf dem Fußballplatz ihren Anfang genommen hatte, beim Spiel der Ersten Mannschaft, wo es anscheinend zu einem Streit gekommen war, und die Frau mit dem Kind dann von dort die Flucht ergriffen hatte. Die waren also bis zu uns schon alle einen Kilometer gerannt.

Jetzt, in der Erinnerung, kommt mir mein kleines Sonntagnachmittagserlebnis sehr unwirklich vor. Ich frage mich, wie so etwas heute ablaufen würde. Als Erwachsener würde ich in so einer Situation sicherlich irgendwas machen. Vermutlich würde ich Kontakt aufnehmen, irgendwas Deeskalierendes zu so einem Kerl sagen, irgendwie freundlich beschwichtigen. Oder die Polizei anrufen. Ich denke, dass in unserer heutigen Straße auch die Nachbarn ähnlich reagieren würden. Die Zeiten sind andere geworden. Frauen waren damals, vor 1970, in vieler Hinsicht dem Manne sprichwörtlich untertan, mussten sich zum Beispiel erlauben lassen, dass sie arbeiten gehen dürfen. Oder wurden im Fall der Scheidung „schuldig geschieden“. Während sich die Männer krummlegten und das Krummlegendürfen ihr Stolz, ihre Identität gewesen ist.

H2
H3
H4
3 columns
2 columns
1 column
Join the conversation now