Ich will das alles nicht mehr sehen

Als ich die große Polizeipräsenz während meines Stadtbummels bemerkte, erinnerte ich mich an die Ankündigung einer politischen Veranstaltung, die während der Vormittagsstunden im Ort stattgefunden hatte. Für schlichte Passanten wohl eher nicht der beste Aufenthaltsort, aber es war ja alles schon gelaufen.

Keine 20 Meter vor mir ging ein Mann. Einer dieser Typen, denen man wahrlich nicht im Dunkeln begegnen möchte, die diese Reaktion auf ihre Erscheinung vermutlich absichtlich provozieren. Ein Baum von Kerl, durchtrainiert, muskulös. Kraftstrotzend - die Bizepse hinderten seine Arme an einer normalen anatomischen Stellung, die starke Oberschenkelmuskulatur sorgte für einen o-beinigen, dennoch fest und selbstbewusst wirkenden Gang. Durch die eintätowierten verfassungswidrigen Symbole auf dem kahl geschorenen Schädel und den strammen Waden, betonte der Mann seine Gesinnung bereits äußerlich.

Noch ehe ich mir Gedanken über das Auftreten solcher Typen und das, was dieses in mir auslöst, machen konnte, schossen drei ebenfalls sehr sportlich wirkende, vor allem aber flinke Männer aus einer Häuserecke hervor, wo sie offensichtlich auf den soeben Beschriebenen gewartet hatten. Sie rissen den verblüfften Kraftprotz zu Boden und begannen sofort, auf ihn einzutreten. Immer wieder ins Gesicht, immer wieder direkt auf die Schädeldecke. Gefühlt verschwanden die Kopftreter genauso schnell, wie sie erschienen sind, allerdings weiß ich das nicht. Ich habe es nicht gesehen. Ich habe gar nichts mehr gesehen.

Ich kreischte laut auf, lief blind über die Straße - bloß weg - und schrie immer wieder "Die schlagen ihn tot, die schlagen ihn tot!" Ich erinnere mich, dass ich auf ein von irgendwoher kommendes "Die Sau hat's verdient!" noch "Kein Mensch hat es verdient, totgeschlagen zu werden!" brüllen konnte. Warum ich soweit noch denken konnte, wundert mich im Nachhinein selbst, denn ansonsten war ich nur noch von Panik gesteuert. Mein eigener Schrei ging mir durch Mark und Bein, ich begann zu hyperventilieren, heulte vor Angst. Weiter bemerkte ich, dass die Leute auf der Terrasse des Cafés, auf die ich flüchtete, ihre Blicke vom Tatort weg, hin zur "kreischenden Irren" richteten. "Ich kann das nicht sehen, mir ist schlecht!" - ich begann erst wieder ansatzweise normal zu atmen und die Augen zu öffnen, als jemand sagte, ich könne mich beruhigen, die Polizei sei bereits da, die Sirene des Notarztes zu hören.

Der direkte Anblick solch brutaler Gewalt, die durch "Die Sau hat's verdient!" und meine eigenen (Vor)urteile entstandenen Gewissenskonflikte, die Angst vor eventuellen Racheakten an Zeugen, ließen mich die Nacht nicht zur Ruhe kommen. Und so meldete ich mich am nächsten Morgen bei der Polizei. Ein paar Tage später wurde ich von der Kriminalpolizei zu einer Zeugenaussage eingeladen. Dort bedankte man sich für meine detaillierten Personenbeschreibungen und teilte mir mit, dass sich diese mit anderen Aussagen, dem Opfer und den mittlerweile gefassten Tätern deckten. Die Namen der Beteiligten erfuhr ich nie, denn ich wurde zum Glück nicht zu einer Gerichtsverhandlung bestellt.

Der meine Aussage aufnehmende Polizist durfte natürlich nichts weiter sagen. Auf meine beharrlichen Fragen, verriet er mir dann aber doch, dass der verprügelte Mann überlebt habe, allerdings wohl nie wieder ähnlich körperlich gewalttätig, wofür er bereits mehrfach vorbestraft gewesen sei, agieren könne.

Ich erzählte eine wahre Geschichte, die sich vor etwa 15 Jahren abgespielt hat. Damals gab es zwar schon das Internet, Ego-Shooter und Gewaltvideos, es lief aber noch nicht jeder mit einer Kamera in Form eines Smartphones herum, mit Hilfe derer man alle Geschehnisse sofort ungefiltert und unkommentiert (ohne vielleicht wichtige Hintergründe und Zusammenhänge) ins Netz stellen kann. Die Erwähnung "des Ereignisses" in der Zeitung lautete in etwa so:

[...] Im Anschluss an die ohne Zwischenfälle verlaufende Veranstaltung wurde ein Mann durch Fußtritte mehrerer Personen lebensgefährlich verletzt.

Das war eine objektive Berichterstattung. Ein Beispiel dafür, dass es damals noch deutlich mehr Journalisten als heute gab, die wussten, wie ein sachlicher, neutraler Bericht aufgebaut ist. Informierende, die wussten, dass jedes ausschmückende Detail wie z.B. Herkunft oder Akzent, sexuelle Neigungen, Religions- und Parteizugehörigkeit usw. eines Täters zu verallgemeinernder, (vor)verurteilender Meinungsbildung über sachferne Gebiete führen kann. Ebenso suggeriert der Zusatz von beurteilenden Adjektiven (grausam, widerlich, wunderschön, sogar rechtens...) ein Meinungsbild. Ja, so etwas wurde (wird?) in der Schule beim Verfassen der Textform Bericht, die objektive Informationsquellen nutzen sollten, als Fehler angestrichen.
Natürlich war das bekannte Boulevardblatt des Springer-Verlags auch vor 15 Jahren nicht das einzige Gegenbeispiel. Dennoch wird es immer schwieriger, sowohl in den Printmedien als auch im Fernsehen oder Internet auf objektive Berichterstattung zu treffen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Verzicht auf Objektivität in vielen Bereichen mittlerweile sogar beabsichtigt scheint. "Schüren" wird zur - von einigen vielleicht noch nicht mal beabsichtigten, aber die möglichen Folgen nicht beachtenden - Normalität. Und: Heute kann jeder Informationen einer großen, vielfach nichts hinterfragenden Masse zugänglich machen, die Verbreitung dieser geschieht rasant.

Nun sehe ich ein Video, das einen ähnlichen Tathergang wie den von mir beobachteten zeigt. Bin ich bereits abgestumpft, weil mir beim Anblick nicht schlecht wird? Ich wurde, wie man hier lesen kann, an mein damaliges Erlebnis erinnert. Einige Gefühle kamen wieder hoch, in erster Linie fragte ich mich aber zum wiederholten Male, wie Menschen die angeborene Hemmung, andere zu verletzen, so derartig ablegen können, dass sie zu Taten fähig sind, die mich schon beim bloßen direkten Anblick in die Knie gehen lassen. Das, sowie eine so empfundene Entwicklung hin zu immer mehr Gewaltbereitschaft, zu erkennen, macht mir Angst. Die Reaktionen auf das Video, die vielfach Drohungen, welche, würden sie aktiv umgesetzt, keinen Deut besser wären, als die gefilmte Tat, beinhalten, ebenso.

Zensur? Ja, die ist das Löschen von Videos und Informationen wohl. Und trotzdem finde ich es gut, wenn derartige Filme gelöscht werden. Nicht etwa, weil ich vor dem Anblick furchtbarer Geschehnisse geschützt werden will. Nein, es ist immer noch meine Entscheidung, ein Video anzuschauen. Bisher habe ich es nicht getan und ich werde es nicht wieder tun. Auch nicht, wenn der Link von einem Mann stammt, den ich u.a. sehr schätze, weil er schon oft - mit spitzer Feder - bewiesen hat, dass er hervorragend dazu in der Lage ist, Pressemitteilungen und andere Informationen kritisch zu hinterfragen und damit anderen aufzeigt, dass man nicht alles glauben darf, was man aus irgendeiner Quelle erfährt.
Nein, ich habe Angst vor den Reaktionen, die überhaupt nichts mehr mit dem grausamen Tatbestand an sich zu tun haben, Angst vor einer unüberschaubar großen Menge, die sich gegen eine andere große Menge aufhetzen lässt und Hass entwickelt. Dieser Hass richtet sich nicht gegen Gewalt.

Solche Videos haben für mich nichts mehr mit Meinungsfreiheit und freier Meinungsbildung zu tun, sondern mit gefährlicher Meinungsmache.

Und so halte ich es fast schon für erschütternd, dass ich den letzten Satz dieses Beitrags als notwendig erachte:
Die in meiner Erzählung beschriebenen Täter waren alle blond.


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19.12.2019


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