Warum ich kein Mitleid will / wie man aus der Opferrolle kommt. @andalucia

@andalucia hat unter meinem Gedicht einen sehr lieben und spannenden Kommentar geschrieben.

Zitat: Die ganzen Erinnerungen an die schmerzhafte Vergangenheit / Kindheit stimmt mich traurig.

Ich begann also, ihr eine ellenlange Antwort zu schreiben, warum ihr das wirklich nicht leidtun muss, als ich merkte, ich kann daraus eigentlich auch einen Artikel machen.

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Ehrlich, meine Kindheit war kein Zuckerschlecken.

Mit 5 Jahren begriff ich, dass kein Mensch oder Gott mich retten wird.
Ich betete bis dahin regelmäßig und dachte wirklich, Jesus käme und hole mich zu sich.
Zu erkennen das niemand kommt und mir hilft, war hart. Ich war 5 Jahre alt und wusste, dass ich noch viel zu schwach und klein bin, um mir selber aus meiner beschissenen Lage zu helfen.

Ich wurde 3 mal von sehr engen Bezugspersonen verlassen.
Der schlimmste Verlust war der Tod meiner Tante, sie stand mir sehr nahe und ich liebte sie in dieser Lebensphase mehr als alle anderen Menschen. Sie und ihr kleiner Sohn waren damals mein Leben. Ich habe sie wirklich sehr geliebt und ihr Verlust bricht mir noch heute das Herz. Keine Ahnung wann ich das überwinden werde aber bevor ich ein Kind gebäre, möchte ich mir nochmals Hilfe holen. Denn ich will nicht meinen Nachwuchs mit diesem Schmerz belasten.



Auch die Schule war richtig schwierig für mich.
Teilweise hatte ich wirklich Todesangst, weil ein Junge mich mobbte und mir immer wieder sagte, wenn er mich allein erwische, bringe er mich um. Und ich glaubte das. Ich traute mich sehr lange nicht, mit meinen Eltern darüber zu sprechen, weil er meinte, wenn ich mit jemandem rede, würde er sie alle umbringen. Ich war so ... leichtgläubig und stellte die Behauptung gar nicht in Frage.

Das sind nur einige der sehr schmerzhaften Momente meiner Kindheit und ja, ich hatte sehr damit zu kämpfen.

In der Pubertät ging mir die ganze Welt so was von am Arsch vorbei. Ich gehörte nirgends hin, hatte keine Ziele und wusste nicht, wo ich stand im Leben. Ich hatte nur einen Menschen, der mir halt gab und meine Tante starb, als ich 17 war. Ich fühlte mich danach so unfassbar allein gelassen. Ich wollte gar niemanden mehr lieben.
Nur meine kleinen Kiddies die ich immer betreut habe, gaben meinem Leben noch irgendwie Sinn und Freude. Sie waren das einzige was mir geblieben war.

Und ja, mir tut die kleine Rachel, die all diese Dinge durchstehen musste, auch leid. Kein Kind verdient eine schwierige Kindheit und doch, haben sie so viele auf ihre eigene Weise.

Mit 25 Jahren war ich hauptberuflich Opfer.
Ich hatte eine Depression. Mir war einfach alles Zuviel. Ich konnte keine tiefen Bindungen mehr eingehen weil die Angst, vor dem Verlust einfach viel zu groß war. Ich vertraute eigentlich niemandem so wirklich, geschweige denn mir selbst.
Ich wollte nicht mehr aufstehen, mich nicht bewegen, nicht das Haus verlassen ...
Ich wollte nur alleine in meinem Zimmer sein, fressen, zocken und schlafen und nie wieder etwas fühlen.



Solange man ein Kind ist, ist man auch ein Opfer. Und natürlich wird man auch als erwachsener Mensch Opfer, wenn andere Menschen bösartige, übergriffige Dinge tun. Der Punkt ist aber, man hat die Wahl, wie man damit umgeht. Als Kind habe ich keine Wahl, ich kann nicht wirklich reflektieren, mich nicht darin bewusst weiterbilden, mir keine Techniken suchen und sie üben. Ich bin einfach schutzlos meinem Umfeld ausgeliefert.


Mir wurde klar, wie viel Macht ich den Tätern geben würde, wenn ich so weiter lebte.
Ich habe ihnen noch als erwachsener Mensch erlaubt, mein Leben zu dominieren mit dem, was sie einmal getan haben. Der Junge, der mir solche Angst machte, wird sich heut vermutlich nicht einmal mehr daran erinnern. Vermutlich weiß er gar nicht, dass er mir das Leben damit zur Hölle gemacht hat, mit seinem blöden Geschwätz.

Oder eine Person, die mich längere Zeit sexuell missbrauchte, lebt gar nicht mehr. Als ich ihr sagte das ich sie niemals wieder sehen will, verstand sie nicht einmal warum, wir hätten es doch immer so schön kuschelig zusammen gehabt, sie hätte mir nie etwas angetan sondern mich immer nur geliebt.


Der Mensch, der darunter litt, war ich. Es war allein mein Leben, das fürn Arsch ging.


Als mir das klar wurde, wie viel Macht ich diesen Leuten über mein Leben gebe, beschloss ich, mir Hilfe zu holen.

Ich kann euch eins sagen, die Therapie war kein Zuckerschlecken. Sie war ziemlich hart und viel Arbeit. Vieles war mir unangenehm und meine Therapeutin sagte Dinge, die ich nie hören wollte.

Es war tausend mal einfacher, anderen die Schuld an meiner Situation zu geben. Außerdem war mir das Leid ein bekannter Gefährte und irgendwie fühlte ich mich darin sicher.

Es war schmerzhaft die Verantwortung für meine Lage anzunehmen aber es hat sich gelohnt.

Mir wurde bewusst, dass meine Kindheit vorbei ist, dass mein Vater mir niemals geben konnte und niemals geben können wird, was ich eigentlich verdient hätte als Kind. Ich lernte, gewisse Dinge anzunehmen, aktiv mein Leben zu gestallten, mich selber zu verstehen und eigene Entscheidungen zu treffen.

Ich lernte welche Ängste durch den Missbrauch und die Verluste meiner Kindheit entstanden sind. Ich merkte das ich meine Flashbacks nicht loswerde, wenn ich mich im dunklen Zimmer einschließe, sondern wenn ich mich ihnen stelle. Ich lernte mir selber zu vertrauen und wieder Menschen an meine Seele heranzulassen und fand die Liebe meines Lebens erneut, in meinem Mann, meinen Freunden und ich lernte sogar, meine Mama zu lieben.

Mit der Zeit konnte ich auch unterscheiden, was meiner Probleme ist die Posttraumatische Belastungsstörung und was kommt aus meinem Autismus.

Ich konnte Stück für Stück die Macht über mich zurückerobern und aus der Opferrolle hinauswachsen. Und ich lernte, mich selber zu lieben.

All die Dinge die ich erlebt habe als Kind, sehe ich heute als eine Stärke.
Ich stehe zu mir, 100%, auch wenn ich mich in einigen Bereichen als unzulänglich empfinde, ist das ok und ich verkrieche mich nicht mehr dahinter.

Ich glaube, dass ich durch diese Dinge mehr Tiefe gewonnen habe und auf eine Art wirken kann, auf die man eben nur dann wirken kann, wenn man den Abgrund wie seine eigenen Westentasche kennt.

Ich möchte nicht, dass meine Vergangenheit irgend jemandem leidtut oder gar jemanden traurig macht.

Es ist traurig, dass insgesamt Menschen solche Dinge passieren und ich habe sie sicher nie verdient oder gewollt.

Aber, jeder dieser Momente hat mich geformt und zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin und ich finde mich selber ziemlich cool und bin stolz auf mich und bei Gott, ich liebe mein Leben.

Ich liebe meine Freiheit, meine Fähigkeit zu reflektieren und eigene Entscheidungen treffen zu können. Ich liebe den Mut, den ich mir angeeignet habe und ich liebe meine Selbstliebe.

Ich bin stolz auf den Menschen, der ich geworden bin und ich weiß, dass die kleine Rachel von damals, mehr als begeistert wäre, wenn sie wüsste, wie wir heute leben.

Es ist ok wenn man bis zu einem gewissen Alter sich als Opfer fühlt aber man darf, sollte und muss, irgendwann aufstehen, den Ängsten ins Gesicht lachen und sich weiter entwickeln.

Ich nehme meine Vergangenheit liebevoll in den Arm (sinnbildlich) und ich nutze sie. Ich habe ein tiefes Vertrauen, das ich einfach immer überleben werde.

Ich habe keine Angst mehr vor dem Leben, ich habe schon so viel überstanden und egal was das Schicksal noch für mich bereit hält an Prüfungen, ich weiß ich werde sie meistern. Ich weiß, was mir Nichts und Niemand jemals nehmen kann.


Wenn ihr es schafft, eure zerstörte kleine Seele wieder zusammen zu setzen, werdet ihr danach stärker sein als jemals zuvor.



Heute empfinde ich Krisen immer als Chancen und ich weiß, ich werde daraus lernen und ein besserer Mensch werden.



Ich bin dankbar für alles, was ich heute weiß, kann und bin. Für dieses unglaubliche Leben, das ich leben darf. Für meine Herzensmenschen, für meine Gesundheit, meine Freiheit und für meinen Mann, der mich genau so liebt, wie ich bin.

Also bitte @andalucia, sei nicht traurig für das was ich vielleicht verloren hab, freu dich lieber über das, was ich gewonnen habe.

Danke das ihr alle da seid, meine Worte lest und mich auf dieser spannenden Reise begleitet. Danke das ihr mich nehmt, wie ich bin und mich dabei unterstützt, meinen Traum zu leben.

Seit ich etwa 10 Jahre alt bin, wollte ich meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben verdienen.
Ihr stärkt mein Vertrauen, das ich diesen Weg gehen kann und darf.

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