Persönlichkeitsbildung? Wo? Heute schauen wir nach der „emotionalen Basis“!

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Um eine Persönlichkeitsbildung entwickeln zu können, wäre es fatal, den Blick nur auf „Bildungsstätten“ zu richten.

Für die Bemühungen um eine freie Persönlichkeitsbildung reicht es nicht, sich auf die Freiheit des Ich allein zu besinnen. Ihre Nachhaltigkeit erlangen solche Bemühungen erst, wenn sie in der Emotionalität des Ich verankert sind. Ein neues Konzept von Persönlichkeitsbildung muss sich, um seine Bodenhaftung zu wahren, mit der emotionalen Basis des Bildungsgeschehens beschäftigen. Diese Basis wird in vielen einschlägigen Fachbüchern und Traktaten vernachlässigt.

Die Schweizer Psychotherapeutin und Kindheitsforscherin Alice Miller hat das Thema „Emotionalität im Bildungsprozess“ gründlich untersucht. Das Ergebnis:

Die für den Bildungsgang unabdingbare Emotionalität ist nicht so sehr die vielzitierte Liebe. Das Gefühl, das hier vor allen anderen zum Tragen kommen muss, ist die Achtung. „Strikte Achtung der Persönlichkeit des Kindes, die nie zuvor so entschieden gefordert worden ist“,

mahnt auch die Ärztin und Psychotherapeutin Maria Montessori an (1988). Montessori meint sogar,

die Unterdrückung des sich bildenden Kindes ginge in erster Linie von der „doch so hingebungsvoll liebenden“ Mutter aus.

Welchen Stellenwert wir solchen Aussagen für den Weg der Persönlichkeitsbildung einräumen müssen, ergibt sich aus tiefergehender Analyse (dem wir uns nachfolgend widmen wollen).

Bezieht man den Gesichtspunkt der Mündigkeit, also das Ziel der Persönlichkeitsbildung, in die Erörterung mit ein, dann reicht der Blick auf Achtung und Liebe nicht aus. Hinter der Erlangung z. B. einer Berufsqualifikation steht noch eine weitere Emotion, die zwar latent schon den einschlägigen Bildungsweg mitbestimmt, die jedoch nachdrücklich auf das Bildungsziel ausgerichtet ist:
die Angst um die Möglichkeiten der Lebensentfaltung und Lebenssicherung im Erwachsenenalter, m. a. W. die Existenzangst. Der Zusammenhang Berufsqualifikation - Existenzangst liegt gewöhnlich nicht offen zu Tage. Deshalb bedarf es auch hier einer erhellenden Analyse.
Die Persönlichkeitsbildung braucht die Achtung der Person als Voraussetzung für deren freie Entwicklung. Sie braucht die Liebe als Wachstumsklima. Und sie braucht die Angst als Antrieb hin zum Wachstumsziel „Existenzsicherung“.

Betrachten wir „Achtung und Liebe“

Zum Thema „Achtung und Liebe im Bildungsprozess“ liegt eine Reihe von Aussagen erfahrener Pädagogen vor. Sie signalisieren:

Setzt nicht so sehr auf die Liebe! Das Kind braucht vor allem die Achtung durch seine mitmenschliche Umgebung. Ekkehard von Braunmühl (1975) meint sogar:

***„Immer dann, wenn der Begriff der Liebe nicht das gleiche oder mehr... meint als… Achtung… dient der Liebesbegriff der Mystifizierung des Terrors… Je größer ihre [der Erwachsenen, d. Verf.] Liebe zu den Kindern, desto zerstörerischer, entselbstender, zukunftsfeindlicher wirkt ihre Erziehung, ihr (wie immer subtiler) Zwang auf das Kind, nicht es selbst zu sein, sondern eine Kreatur nach ihren Wünschen… Die hier vorgeschlagene Übersetzung von Liebe in Achtung erklärt auch, warum Erziehung… aus Kindern Feinde macht, selbst wenn sie aus ‚Liebe’ erfolgt.“ ***

Werden durch solche Statements die Erwartungen an die Liebe als emotionaler Basis für die Persönlichkeitsbildung zwar gedämpft und ihr Absolutheitsanspruch in Frage gestellt, so ist doch nicht zu leugnen, dass auch die Liebe einen großen Einfluss auf das pädagogische Verhalten hat. Ungefordert stellt sie sich bei Eltern und Mentoren der Kinder ein als die ganz natürliche emotionale Reaktion auf das Liebenswerte an jedem Kind.
Vor allem kleinen Kindern gegenüber erwacht die Liebe schnell. An ihnen rührt uns ihre Offenheit und Anmut. Hier müssen die Erwachsenen nur lernen, ihre natürliche Gefühlslage nicht zu verbergen. Sie müssen lernen, in freier Hingabe zu ihren Emotionen zu stehen. Der Psychoanalytiker und Liebesexperte Erich Fromm mag das nicht. Für ihn ist die Liebe gerade nicht das Gefühl,

„dem sich jeder… nur einfach hinzugeben braucht… ohne Rücksicht auf den Grad der eigenen Reife.“

Die Werke des Liebestheoretikers Fromm, vor allem „Die Kunst des Liebens“(1981), gehören zu den international am meisten verbreiteten Büchern.
Für Fromm ist die Liebe kein einfaches und ursprüngliches Gefühl, sondern eine „schwere Aufgabe“, eine „Kunst“, die es zu „beherrschen“ gilt. Man muss sie lernen, wie jede andere Kunst auch (er nennt Medizin, Technik, Musik, Malerei, Tischlerhandwerk). Der Lernprozess hin zur Liebe erfordere Disziplin, Konzentration und Geduld (falls es mal nicht gleich so glatt gehen sollte mit der Liebe).

„Unsere gesamte Persönlichkeit muss zu einem Instrument zur Ausübung der Kunst [des Liebens] werden“.

Bei solchen Sätzen fragt man sich doch: Wovon redet Fromm? Von der Liebe? - So überzeugend die Fromm´schen Thesen zunächst erscheinen mögen, so realitätsfern sind sie. Wie weit weg von dem ganz natürlichen und einfachen Gefühl der Liebe muss ein Mensch sein, um der Fromm´schen Gefühlstheoretik noch folgen zu können. Man muss die Auslassungen Fromms schon sehr verinnerlicht haben, um den Grad an Reife für die „echte“ Liebe erlangt zu haben.

Liebe richtet sich auf Liebenswertes. Sie entsteht und vergeht, sofern die sie hervorrufenden liebenswerten Eigenschaften oder Handlungsweisen sich zeigen oder wieder verschwinden. Das Gefühl ist gewissermaßen außengesteuert. -

„Und es ist kein Zweifel, dass man die Menschen zur Liebe aufkitzeln und verführen kann wie zu anderen Leidenschaften, z. B. gleich zum Hasse“ (Max Stirner, Nachdruck 1972).

Lassen wir die Liebe, aber auch den Hass ungehindert in uns zu, dann beobachten wir, wie wechselhaft diese Gefühle sind, wie sie gleichsam mit uns spielen. Weil an die äußeren (liebens- oder hassenswerten) Erscheinungen gebunden, verwandeln sich Liebe und Hass mit dem Wandel der äußeren Erscheinungen. Hier aber von einem „Launentheater“ zu sprechen, wäre ungerecht. In solcher Rede äußert sich nur die Verbitterung und Enttäuschung derjenigen, die an diese Gefühle falsche Hoffnungen und Erwartungen knüpfen.
Nach einer überaus schönen Aufwallung des Verliebtheitsgefühls wieder zu uns zurückgekehrt, stellen wir fest, dass das Gefühl nichts mit der Person unserer Mitmenschen zu tun hat, sondern mit deren Eigenschaften: Ich liebe die Zärtlichkeit meiner Frau, die Anmut meiner Kinder, den freien Geist meiner Freunde, die braunen Haare meiner Sekretärin usw. Nicht mehr als das erwarte ich auch vom Liebesgefühl auch meiner Mitmenschen. -

Mit der Liebe „heiratet (man) gleichsam, was Ich habe, nicht was Ich bin“ (Max Stirner, a. a. O.).

Ich will gar nicht, dass man mich liebt. Man konzentriere seine Liebe auf meine liebenswerten Eigenschaften, und das heißt im Deutschen immer noch: auf jene Eigenschaften, die der Liebe wert sind. Will ich mehr Liebe, dann muss ich sorgen, dass es mehr Anlass dazu gibt. Was an mir nicht der Liebe wert ist, lässt meine Mitwelt kalt. Recht so!

Wir reden uns in Bezug auf Liebe und Hass ständig Schuldgefühle ein: Wir fühlten zu wenig Liebe und zu viel Hass unseren Mitmenschen gegenüber. Dabei wird vergessen, wie beide Gefühle an der Oberfläche kleben, an den liebens- und hassenswerten Eigenschaften unseres Gegenübers. Der Unschuld der Gefühle tut das keinen Abbruch. Die Hassgefühle meiner Mitwelt mir gegenüber sind genauso unschuldig wie deren Liebesgefühle. Denn sie haben mit meinen Eigenschaften und deren (allerdings subjektiven) Anmutung zu tun. In Bezug auf die Liebe ist solche Anmutung besonders dort wirksam, wo wir das Natürliche an Kleinkindern erleben. Hier erwacht die Liebe schnell - selbst bei ansonsten emotional verschlossenen oder verkrüppelten Menschen.

Viele Zeitgenossen klammern sich an die Liebe als der angeblich großen Sicherheitsgeberin im zwischenmenschlichen Bereich. Sie wissen offenbar nicht, auf was sie sich da einlassen. Natürlich gibt es Liebe zwischen den Menschen, denn es gibt ja das Liebenswerte. Jeder Mensch hat irgendwo liebenswerte Eigenschaften. Warum sollte man die nicht lieben? Deshalb gibt es auch mehr Liebe, als manche Liebesdiktatoren fordern. Es gibt so viel davon, weil es eine Menge liebenswerter Eigenschaften gibt.

Bei der allgemein üblichen Verwechslung von Wort und Sache geschieht es häufig, dass das Gefühl der inneren Abhängigkeit von einem Mitmenschen Liebe genannt wird, jenes absolut legitime und manchmal sogar ehrlich zugestandene Schwächebekenntnis

„Ohne dich kann ich nicht sein“.

Das so bezeichnete Gefühl kann sehr zählebig sein. Vom Philosophen Sophokles wird berichtet, dass er dieses offenbar bei ihm sehr leidenschaftliche Gefühl wie das Joch eines grausamen Herrn empfand, von dem er sich erst gegen Ende seines Lebens hat befreien können.
Der Arzt und „Elementaranalytiker“ Fritz Wiedemann unterscheidet in seinem Buch (1974) im Kapitel

„Der große Irrtum über die Liebe“ (nachdem er die frappierende Feststellung gemacht hat: „Sex ist nicht Liebe“) drei Arten von Liebe und ergänzt: „Noch ein weiterer Trieb spielt in der Liebe mit. Wir nennen ihn die Sehnsucht… Das Gefühl der Sehnsucht zeigt sich bei der Elementaranalyse als identisch mit dem Heimwehgefühl und dem Abschiedsschmerz… Die Sehnsucht soll als Anziehungskraft den Menschen immer wieder dahin ziehen, wo er seine Heimat, sein Heim, seine Geliebten… hat.“ -

Die Welt braucht die Wiedemann´sche „Elementaranalyse“, und Schneeweißchen und Rosenrot.
Der Wunsch, in der Liebe ein hinreichend stabiles emotionales Fundament der Zwischenmenschlichkeit zu sehen, ist schon zu oft enttäuscht worden und wird wohl nie in Erfüllung gehen,

***„weil sie in Ansehung des Objekts nicht ein beharrliches Prinzip enthält“ (Immanuel Kant). ***

Es ist schon so: die Liebe als das stabilisierende emotionale Moment der Gesellschaftlichkeit zu etablieren, wurde und wird arg strapaziert. Aber ohne emotionale Stabilität kann sich Vertrauen beim heranwachsenden Kind nicht aufbauen. Und dieser Umstand verweist uns auf die zwischenmenschliche Achtung.

Liebe erwacht schnell mit dem Erscheinen des Liebenswerten und schläft schnell ein mit dessen Verschwinden. Achtung geht in die Tiefe der Person, auf das Ich schlechthin. Entweder ist sie ganz da, dann aber auch dauerhaft. Oder sie ist noch gar nicht entwickelt. Dann gibt es sie eben auch zeitweise nicht. Freundschaft ohne das stabile Element der Achtung steht in der Gefahr, in das erratische Zickzack der Launen zu geraten. Dann allerdings wird sie zum Launentheater (s. o.).
Dass über die bloße Achtung hinaus auch starke Liebesgefühle eine Freundschaft bestimmen, steht außer Frage. Dennoch: Es muss schon eine gar hilflose Seele sein, die sich an der Liebe und nichts als der Liebe ihrer Mitwelt festhält.

Der Verliebte verfällt einem Mitmenschen, weil der unverwechselbar so und nicht anders ist. Der Achtende achtet jeden ohne Rücksicht auf dessen Eigenschaften und wechselnden Verhaltensweisen. Achtung richtet sich nicht auf dies oder das an der Kreatur Mensch, sondern auf das Kreatürliche des Menschen schlechthin. Sie richtet sich auf das Ich als Person (hier verweise ich auf die vorherigen Artikel)
Die Achtung – als

„selbstgewirktes Gefühl“,

wie Kant sich ausdrückt – ist das genuine Gefühl für die „Ichigkeit“ des Anderen, wofür wir aber besser das Wort Egoität verwenden. In der Achtung wird das Ich selbst zum Achtbaren. Die Achtung ist auf den Quell der individuellen Aktivität und Spontaneität gerichtet. Wenn sich das Ich, das Ego, zuinnerst selbst gefunden hat, dann hat es den Gegenstand der Achtung, das Achtbare bei sich entdeckt. Es kann also der Mensch den Gegenstand der Achtung nur aus sich selbst herausarbeiten. Das Gefühl der Achtung ist „selbstgewirkt“ und insofern zuerst Selbstachtung.

Um den Unterschied zwischen Liebe und Achtung klar sichtbar zu machen, sind wir wieder auf den in den vorhergehenden Artikeln herausgearbeiteten Dualismus beim Ich verwiesen. Die Liebe geht auf das Ich als Habitus. Die Achtung geht auf das Ich als Persona. Insofern können beide nebeneinander bestehen, ohne sich gegenseitig auszuschließen. In einer wahren Freundschaft sind beide eng miteinander verknüpft.
Jede Form von Gesellschaftlichkeit ist gottlob auch von der Liebe getragen. Die launenhaften Kinderfreundschaften und viele kindisch gebliebenen Freundschaften der Großgewordenen ermangeln nicht der Liebe. Sie ermangeln der Achtung. Die Liebe hat sicher einen wichtigen Platz im Bildungsprozess. Sofern sich Bildung aber der Freiheit der Person verschrieben hat, ist das Gefühl der Achtung vorrangig.

Der Umstand der nur geistigen Erlebbarkeit des Ich bedingt, dass das darauf gerichtete Gefühl sich in seinem Charakter von allen anderen Gefühlen prinzipiell unterscheidet.

„Allein wenn Achtung gleich ein Gefühl ist, so ist es doch kein durch Einfluss empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen der ersteren Art... spezifisch unterschieden“ (Kant).

Das gilt auch für die Missachtung. Die Missachtung ist das negative Pendant der Achtung und richtet sich ebenfalls auf das Ich als solches. Achtung ist das Freiheit-Geben. Missachtung ist das Freiheit-Nehmen. Werden wir beispielsweise belogen, dann empfinden wir das als Versuch, durch bewusste Fehlinformation die freie Entscheidung unseres Ich fehl zu leiten.
Die Missachtung hebt die Achtung auf. Sie negiert die Achtung. Als Reaktion auf die Missachtung gibt es gleichfalls eine Negation: die Verachtung (z. B. des Lügners), die nun ihrerseits die Missachtung aufhebt. Sie stellt – gewissermaßen als Negation der Negation - die Achtung wieder her: als Selbstachtung. Denn derjenige, der eine Missachtung sich gegenüber in vollem Bewusstsein zuließe, opferte die Achtung seiner selbst. Die Konstellation Achtung - Missachtung – Verachtung (aus der Selbstachtung heraus), als dialektische Trinität, ist einmalig im Gefühlsleben des Menschen. Und sie ist genau passend bemessen.

Das Ich ist den Wechselfällen des Lebens nicht unterworfen. Es ist immer dasselbe Ich, das unterschiedlich handelt, redet oder fühlt. Das Ich ist stetig, so lange es lebt. Und so passt es, dass auch das sich auf das Ich richtende Gefühl, die Achtung, stetig ist. Will man den Bildungsprozess auf den Boden emotionaler Stabilität stellen, bietet sich die zwischenmenschliche Achtung als verlässliche Größe an. Auf die emotionale Stabilität beim Pädagogen ist das Kind essentiell angewiesen.
Die Achtung geht also nicht auf Dies oder Das am Ich, sondern auf das Ich selbst. Sie ist das Freigeben des Ich als Person. Mein Ich beansprucht, dass meine Freiheit neben der meines Nachbarn muss bestehen können. Konsequenz zeigt sich aber erst in der Umkehrung: Die Freiheit meines Nachbarn muss neben meiner bestehen können. Und nicht nur das! Auch die Freiheit aller Anderen auf dieser Welt muss neben meiner bestehen können. Die Fairness, die die Mündigkeit eines Menschen essentiell ausmacht, z. B. beim Einhalten von Verträgen, erwächst auf dem Boden gegenseitiger Achtung.

Ein nur vom Gefühl der Liebe und der gegenseitigen Zuneigung getragenes Gemeinschaftsleben hat gerade nicht die Gleichheit von Ich und Du, sondern die individuellen Unterschiede, die Besonderheiten der Menschen zum Gegenstand: das an dem einen so, an dem anderen anders sich zeigende Liebenswerte. Nicht die (durchaus wünschenswerte) Liebe, sondern erst eine gewisse Noblesse der Denkungsart, die sich im Gefühl der Achtung kund tut, bewirkt Fairness.
Achtung brauche ich mir nicht zu erwerben, wie zum Beispiel Respekt. Kraft meiner Egoität habe ich einen naturgegebenen Anspruch darauf. Also kann Achtung auch gefordert werden, im Gegensatz etwa zur Liebe, die nur dort zwanglos entsteht (und eben auch wieder vergeht!), wo Liebenswertes erscheint (und eben auch wieder verschwindet). Gleiches gilt für den Hass. Über meine Liebes- und Hassgefühle habe ich keine Macht. Und es war wohl einer der folgenschwersten Fehlgriffe der Gesellschaftslehre vergangener Zeiten, die Beförderung der Liebe und die Unterdrückung des Hasses zur moralischen Pflicht gemacht zu haben. Besser hätte man die Leute darüber aufgeklärt, gegen welche Dinge sie ihre Hassgefühle und an welche Dinge sie ihre Liebesgefühle richten sollen.

Achtung war oben als das auf das Innere des Menschen gerichtete Gefühl bezeichnet worden, eben weil sie sich nicht auf äußere Erscheinungen, sondern auf den „Ich-Kern“, die Person, richtet. Bedenken wir, dass uns der verlogene Freund innerlich mehr verletzt als derjenige, der sich unverblümt hasserfüllt als unser Feind zu erkennen gibt. Die uns entgegengebrachte Missachtung trifft uns härter als der offenkundige Hass. Bedenken wir weiter, dass eine - sicherlich auch durch Liebe getragene - Freundschaft ihre Dauerhaftigkeit und Stabilität erst gewinnt durch die Achtung, durch das Freigeben des anderen in seiner Person.

Die Achtung im eigentlichen Sinne ist zu unterscheiden von jener, die an die Furcht gekoppelt ist, nämlich die naive Achtung. Die Polizei, der Lehrer oder der Chef werden oft nur solange „geachtet“, als sie gegenwärtig sind und mithin eine Bedrohung darstellen. Aber – „aus den Augen, aus dem Sinn“ - ist die Bedrohung nicht mehr da, gibt sie keinen Anlass mehr zur Furcht. Dann flieht mit dieser auch die „Achtung“.
Die naive Achtung erscheint und verschwindet, wenn der Gegenstand der Furcht, das Bedrohliche, erscheint und verschwindet. Sie ist nicht wirklich auf das Ich als Person gerichtet, sondern auf das Ich als äußere Erscheinung (z. B. den Lehrer und seine Vorhaltungen). Sie ist objektbezogen und deshalb labil, so wie die Furcht labil ist, aus der sie sich speist.
Die naive Achtung ist zeitweise da und zeitweise nicht, so wie das Bedrohliche zeitweise da ist und zeitweise nicht. Die Achtung im eigentlichen Sinne aber ist entweder ganz und dauerhaft da. (Denn sie ist nicht nur für das Ich, sondern auch aus ihm). Oder es gibt sie noch gar nicht. Das heißt, sie liegt noch außerhalb eines klaren und deutlichen Bewusstseins.
Die Anmerkungen zum Gefühlskreis „Achtung“ zeigen: wir haben hier das passende emotionale Fundament für eine sachgerechte Bildung vor uns. Die konsequente Realisierung einer Persönlichkeitsbildung auf der Basis gegenseitiger Achtung bewirkte eine derart tiefgreifende Verwandlung des Lerngeschehens, dass damit alle bisherigen „Erneuerungsvorschläge“ und „Reformvorhaben“ vom Tisch gefegt würden. Denn diese sind auf die Rettung einer Bildungsanstalt aus, die die Missachtung der Person zur Voraussetzung hat.

Hier kann ich meinen heutigen Artikel nicht enden lassen. Auch wenn die Lesezeit etwas überspannt wird, muss der Blick noch auf die

„Existenzangst“

gerichtet werden.

Nachdem wir die Rolle, die die Gefühle Liebe und Achtung im Bildungsprozess spielen, erörtert haben, müssen wir uns noch einem weiteren Aspekt menschlicher Emotionalität zuwenden, der für die Persönlichkeitsbildung gleichermaßen wichtig ist, obwohl er eher verdeckt und verborgen das Geschehen bestimmt und deshalb bisher kaum diskutiert wurde. Wohl weil dieser Aspekt das Lernen im höheren Alter bestimmt, wird er in fast allen pädagogischen Theorien unberücksichtigt gelassen.
Der Erwerb einer Berufsqualifikation in den dafür vorgesehenen Bildungsstätten wird nicht als bloßes Spiel, sondern als ernsthaftes Engagement zur Befähigung für einen Existenzerhalt betrieben. Der Existenzerhalt der Menschen findet heute nicht nur aufgrund von Eigenproduktionen statt, sondern vor allem aufgrund von Tauschprozessen am Markt. Dazu gehört auch der Tausch Arbeitskraft gegen Geld. Dafür muss Arbeitskraft aber erst einmal entwickelt sein.

Das Für- und Gegeneinander am Markt erscheint zunächst als undurchschaubares Wirrwarr verschiedenster Interessen. Aber in diesem Wirrwarr herrscht ein verborgenes Gesetz: das der Nutzenmaximierung, oder - anders ausgedrückt - das der Optimierung individueller Lebenserhaltung und Selbststeigerung. Noch die schwerfälligsten Tanker unter uns sind beweglich, wenn es um Selbsterhalt und mehr Lebens- und Lustgewinn geht.

Die weitaus meisten Theoretiker sehen in dem Bestreben nach Bedürfnisbefriedigung den Motor des Marktgeschehens. Eine aus einem Bedürfnis geborene Befriedigungsleistung ist das Verringern der Entfernung, also das Ent-Fernen des Abstands zwischen einem Ist und einem Soll. Das aus zu großer Entfernung erwachsende Gefühl der Disharmonie, das die Sehnsucht oder den Drang nach Harmonie (gewissermaßen den „Magnetismus“, der Ist und Soll zueinander zieht) hervorbringt, welcher wiederum Verstand und Einbildungskraft instruiert, einen Weg für die Annäherung des Ist an das Soll zu suchen und zu bahnen.
All diese Geistesaktivitäten dirigieren die Handlungen, die am Ende ein Bedürfnis befriedigen. Jede menschliche Befriedigungsleistung ist demnach mehr oder weniger geistig vermittelt. Das gilt für das Essen und Trinken genauso wie für die Befriedigung des Geltungsdrangs, der ästhetischen, sexuellen und moralischen Bedürfnisse und sogar für den Spieltrieb.

Aber die nach Befriedigung drängenden Bedürfnisse selbst sind offenbar nicht das tragende Fundament für den ganzen Apparat existenzsichernder und lebenssteigernder Aktivitäten. Damit bleibt unerklärt, wie Leistungen des Schonens von Ressourcen (das Sich-Ge-sund-Erhalten), des Sammelns von Reserven, des Aufbaus und Übens von Kräften usw. motiviert sind. Das Sparen z. B. kann geradezu eine Unterdrückung der Befriedigung von Bedürfnissen erforderlich machen. Man kann zwar sagen, beim Sparen wird ebenfalls ein Bedürfnis befriedigt, nämlich das Sicherheitsbedürfnis. Das Sicherheitsbedürfnis ist nicht das Bedürfnis nach einer unmittelbaren und momentanen Befriedigung, sondern das Bedürfnis, die Befriedigung möglichst unbeeinträchtigt in jeder künftigen Lebenslage leisten zu können, die Freuden des Lebens auch später genießen zu können.

Das Sicherheitsbedürfnis zielt also nicht so sehr auf eine gerade anstehende Befriedigung, sondern auf das Befriedigungspotential. Der Sicherheitsbedürftige fragt:
„Wie schaffe ich die Möglichkeiten für meine jederzeit vollziehbare Bedürfnisbefriedigung?“
Ihm geht es um die Absicherung des Lebens schlechthin, und zwar auch des künftigen. Insofern greift das Sicherheitsbedürfnis tiefer und weiter als jedes andere Bedürfnis.
Beim Sicherheitsbedürftigen ist am ehesten zu erkennen, was das vorsorgende Ich letztlich antreibt. Es bangt um sein Leben. Und nicht nur das. Es sorgt sich um dessen größtmögliche Entfaltung. Das nach Sicherheit strebende Individuum treibt die Lebensangst, oder wie wir auch sagen: die Existenzangst. Die Existenzangst in höchster Instanz ist stets - Todesangst.
Daher sollte man mit dieser „Existenzangst“ nicht schamlos, (schon verbrecherisch) umgehen, wie es derzeit im großen Stiel betrieben wird.

Sofern alle anderen Bedürfnisse Derivate des einen Urbedürfnisses, nämlich des Lebenwollens sind, die Existenzangst aber um dieses Bedürfnis bangt, steht sie als emotionale Basis hinter allen Bedürfnissen und ist somit die Motivationsbasis für deren Befriedigungsaufwand. Sie ist auch Triebkraft für die Bereitstellung und Aktivierung jeglicher Art von Berufsqualifikation.
Die Existenzangst ist nicht direkt und nicht bewusst Motivationsbasis für die Persönlichkeitsbildung. Denn sie bleibt so lange im Hintergrund des Bewusstseins, solange Bedürfnisbefriedigungen nicht anstehen. Als Angst meldet sie sich aber dann, wenn Bedürfnisse sich melden, nämlich im Erwerbsleben. Sie leitet alle Berufsaktivitäten, wenn weder Erbschaft noch Schenkung zur Existenzabsicherung zur Verfügung stehen.

Die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung sind zwar stets irgendwie da, aber diesseits des Zauns zum Paradies nicht in ausreichender Menge. Die Ökonomen sprechen von „Knappheit der Güter“. Die Güterknappheit ist der Auslöser der Existenzangst. Der „Knappheitsgrad“ - im Paradies sicherlich gleich Null - ist in unserem irdischen Leben mehr oder weniger groß. Er bestimmt – unter Umständen auf mannigfach vermittelte Weise - den Stärkegrad der Angst. Er strahlt auch indirekt aus auf unsere Bildungsbemühungen, oft ohne dass wir dies eigens wahrnehmen.
Aus der Existenzangst erwächst der Impuls zu existenzerhaltenden Handlungen, und das heißt zu Handlungen, die Besitz und Eigentum schaffen und sichern. Solche Handlungen sind Angstberuhigungsstrategien. Zu ihnen zählt der Erwerb einer beruflichen Qualifikation, aber auch das Üben von Fairplay, die Entwicklung erträglicher Kommunikativität usw.

Kapital, Arbeit und Erfindungsgeist sind die Leistungspotentiale, die die Menschen in eine Gesellschaft, die im Kern leistungsteilige Tauschgesellschaft ist, vermittelt oder unvermittelt einfließen lassen und aus denen sie ihrerseits von Anderen Nutzen ziehen können. Ob und wieweit sich die Potentiale realisieren, hängt von subjektiven Triebkräften ab. Die in Bezug auf Marktrelevanz verlässlichste Triebkraft ist die Existenzangst und der daraus wachsende Drang nach Überleben und Lebensentfaltung. In dieser Funktion ist die Angst ein sinnvoller und wichtiger Teil unserer Lebenstüchtigkeit.

Einen schönes Wochenende,
euer Zeitgedanken

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Ecency