Momente und Fenster

Normalerweise macht man das nicht.
Nie eigentlich.
Keine Zeit dafür.

Aus sich herausgehen.

Klingt einfach. Ist es nicht.

Die subjektive Perspektive abschalten.

Geht das überhaupt?
Was bleibt denn dann noch?

Sich distanzieren.

Wovon denn überhaupt?

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Als intelligentes, selbstbewusstes Wesen lebt der Mensch nicht nur im Moment. Jede Handlung, jeder Gedanke steht im Kontext von Zukunftsplanung und Erfahrungen der Vergangenheit. Ein Mensch weiß in der Regel nicht nur, was er gerade tut, sondern auch, was er schon gemacht hat, und was er noch vorhat, ja meistens sogar hat er eine Vision davon, wie sein weiteres Leben verlaufen wird.

Jeder Mensch trägt, kurz gesagt, ein riesiges Zeitfenster mit sich herum. Das hat sowohl Vorteile als auch Nachteile. Das Problem mir diesem Zeitfenster ist, dass alles daraus auch den Moment beeinflusst. Eine Prüfung nicht geschafft, einen Job nicht gekriegt, eine falsche Investition getätigt... längst vorbei, nicht reversibel. Und dennoch belastet es den Moment.
Auch die positiven Ereignisse können natürlich einen Einfluss haben, sei es die Beförderung, ein gewonnener Wettbewerb oder dass sie oder er "ja" gesagt hat. Selbiges gilt ganz besonders natürlich auch für den Teil des Zeitfensters, der sich unter Umständen noch beeinflussen lässt.

Der Mathematiker würde zu dem Schluss kommen, dass ein möglichst großes Zeitfenster zu einer stabileren "Einflusskurve" führt. Ich habe in meinem bisher knapp 21-jährigen Leben jedoch die Erfahrung gemacht, dass sich die negativen Aspekte stärker und länger auswirken. Man könnte die Metapher des Fensters, das man mit sich herumträgt, also ein bisschen erweitern: Man trägt ein Fenster, dessen Scheibe am Rand dunkel getönt ist. Je größer das Fenster, desto größer ist der abgedunkelte Bereich.

Nun gibt es dennoch Menschen, die ständig gut gelaunt oder zumindest positiv eingestellt sind. Bislang ist unser Bild vom Fenster noch neutral, unabhängig von der Persönlichkeit. Letztere wirkt nämlich wie ein Filter. Eine Brille, wenn man so will, der der Blick auf das Fenster ständig manipuliert wird. Während des einen Brille die positiven oder negativen Aspekte hervorhebt, sieht ein anderer durch seine Brille verstärkt Erfahrungen der Vergangenheit oder ausschließlich das Bild der eigenen Zukunft.

Ich selbst bin ein sehr rationaler Mensch. Mein Fenster ist eher variabel, aber meine Brille ist immer gleich: Alle Aspekte im Fenster, und damit ihr Einfluss auf den Moment, werden im Lichte rationaler Überlegungen gedämpft.

Mit dem zu Beginn angesprochenen "aus sich herausgehen" ist die Auflösung dieses Fensters gemeint. Eine stete Verkleinerung, bis das Fenster selbst die kleinstmögliche Einheit einer Erfahrung unterschreitet.


Ich sitze gerade an einem Fluss in einer Stadt. Schreibe schon eine ganze Weile. Leute sind an mir vorbeigegangen, gelaufen, geschlendert. Aber das einzige Fenster, das ich sehe, ist mein eigenes. Die anderen Menschen sind nur Objekte in dem idyllischen Bild vor mit. Ich unterscheide mich nicht von ihnen. Ich selbst bin nur Objekt in vielen Bildern, unzähligen Perspektiven.
Aber jeder trägt ein Fenster und eine Brille.
Ich sehe sie nicht, aber ich führe mir vor Augen, dass sie da sind. Ich gehe von Person zu Person, überlege, wie ihr Fenster aussehen könnte. Fange Gesprächsfetzen auf, denke mir Geschichten aus. Mein eigenes Fenster wird unbedeutend. Auch das der anderen. Irgendwann habe ich die Position eines neutralen Beobachters eingenommen. Keine Fenster weit und breit. Nur ein Fluss, der durch eine Stadt fließt, mit vielen Fußgängern und Radfahrern am Ufer. Auf einer Bank sitzt ein Typ, und starrt auf's Wasser. Beobachtet die Menschen.
Für einen kurzen Moment hatte er kein Fenster.

Dann beginnt er zu schreiben.


Früher habe ich mir für so eine Erfahrung den Himmel angesehen. Der Blick in die Sterne lässt nicht nur die eigene Person, sondern auch das Fenster mit all seinen Sorgen schrumpfen. Ebenso stark können beeindruckende Naturschauspiele oder bestimmte Gedankenspiele und daraus resultierende kognitive Konflikte wirken.

Sich bewusst zu werden, wie "klein" man eigentlich ist, ist nicht leicht. Aber es kann in jedem Fall befreiend sein. Dafür braucht es keine Niagara-Fälle, keinen Blutmond und keine Vorstellung von einem 8-Milliardstel.
Es ist auch weit weg von "Nichtstun".
Es hat nichts mit "Abschalten" zu tun.

Es erfordert Disziplin, sein Fenster für einen Moment aufzulösen.
Sich von allem zu befreien, was nicht im Augenblick präsent oder relevant ist.

Aber es ist die Mühe wert.

Denn in solchen Momenten kann man sich einfach zum Glücklichsein entscheiden.

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Ecency