Was ist ein weltoffener Muslim?




Und wieder ist @freiheit50 'schuld' an meinem Artikel. :)


Nicht, dass der hier vorliegende Artikel etwa geplant gewesen wäre, aber wie so oft ist es @freiheit50, er möge das als Kompliment betrachten, dessen kritische Kommentare mich zum Schreiben veranlassten. Es verläuft dabei immer nach demselben Schema: Ich beginne auf den Kommentar zu antworten, mein Text wird länger und länger, und irgendwann denke ich dann "So einen Bandwurmkommentar kann ich doch keinem Menschen zumuten - ich muss einen Artikel daraus machen." Einen Artikel, der mir - ich ahne es bereits - wieder raue Mengen an Kommentaren einbringen wird, denn ich fasse ein ziemlich heißes Eisen an: @freiheit50 s Frage danach, wie denn genau ein "weltoffener Muslim" definiert sei?

Bin ich "Kommunist" und "libertär" zugleich ...?


In Folge einiger in letzter Zeit verfasster Artikel, beispielsweise über steuerfinanzierten öffentlichen Nahverkehr oder die Frage nach mehr Nichtraucherschutz und den damit einhergehenden kontroversen Diskussionen über individuelle Freiheit, die Macht des Staates und vieles mehr, wandelte ich mich in den Augen diverser Kommentatoren zum Kommunisten, in denen anderer zum Libertären. Nun, man hat's nicht leicht, aber ich dachte mir zum Trost, wer alle Seiten gegen sich aufbringt, muss wohl einigermaßen ausgewogen argumentiert haben ... :-)

Mit dem heutigen Thema wird es mir sicher ganz ähnlich ergehen. Konservative Muslime, aber auch die Anti-Islam-Fraktion werden mir vermutlich gleichermaßen in Scharen die 'Followerschaft' aufkündigen. Ich sollte einen Screenshot der Anzahl meiner Follower vor und nach dem Artikel anfertigen ... :)
Aber lasst mich nun zum Thema kommen:

Was ist in meinen Augen ein weltoffener Muslim?


Weltoffen ist ein Mensch meiner Meinung nach, wenn er daran interessiert ist, wie Menschen mit anderer Lebenseinstellung, anderem Glauben, anderen politischen Ansichten, ..., ... leben, warum sie das tun, und der diese von ihm verschiedene Art zu leben als gleichberechtigt neben der seinen respektiert (unter der Voraussetzung, dass dieser Respekt auf Gegenseitigkeit beruht).

Weltoffen zu sein heißt m. E. nicht, sich zwanghaft an alles (den Lebensstil, vorherrschende Trends, die Art zu denken, zu essen und trinken, sich zu kleiden) anzupassen, obwohl man es nicht gerne tut, es nicht dem eigenen Stil entspricht. Wäre das die Definition von 'weltoffen', dann wäre ich vermutlich auch nicht weltoffen, weil ich ganz bewusst so lebe, wie ich es eben tue. Ich trinke z. B. auch nicht gerne Bier, was daran liegt, dass es mir nicht schmeckt. Wenn aber jemand aus religiösen Gründen kein Bier trinkt, heißt das für mich noch lange nicht, dass er nicht weltoffen ist, solange er Biertrinker respektiert und vielleicht sogar neugierig ist, wie Bier schmeckt, wie es hergestellt wird, wie die Tradition, Bier zu trinken sich kulturell entwickelt hat.
Würde man für Weltoffenheit voraussetzen, dass jemand alles tut, was irgendwo die Mehrheit eben so macht, dann würde es per dieser Definition beispielsweise auch keine weltoffenen Vegetarier geben ... Ich bin als absoluter Individualist kein Freund von 'Leitkulturen' oder ähnlichem (wofür gibt es denn Gesetze?), denn ich selbst falle bezüglich vieler Verhaltensweisen aus solchen Normvorgaben heraus. Ich sehe mich aber dennoch als weltoffenen Menschen, der die Lebensstile anderer respektiert und neugierig ist, warum sie so leben, wie sie es tun.
Genau so stelle ich mir auch einen weltoffenen Muslim vor.
Vorstellen klingt nun so abstrakt. Deshalb sollte ich hinzufügen, dass ich solche Muslime durchaus kenne (und abgesehen davon kenne ich auch Muslime, die Alkohol trinken und Schweinefleisch essen, weil sie zwar bestimmte Aussagen ihrer Religion für sinnvoll halten, aber nicht sklavisch ein Regelwerk befolgen).

Vielleicht ist es ja beispielsweise für einige überraschend, dass der Liberal-Islamische Bund sich für die Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben ausgesprochen hat?
Vielleicht weiß nicht jeder, dass es zu allen Zeiten liberale, für Toleranz stehende Strömungen des Islams, wie z. B. den Sufismus, gab (und gibt)?


Quelle: pixabay.


Wir sollten, statt reaktionäre Kräfte zu stärken, moderate unterstützen!


Nun zur von @freiheit50 zitierten Aussage von Recep Tayyip Erdoğan (ich habe das Zitat nicht überprüft):

"Es gibt keinen moderaten oder nicht-moderaten Islam. Islam ist Islam und damit hat es sich."

Nun, welche Antwort/Aussage ist zu erwarten, wenn man einen absolut verbohrten Hardliner fragt? Man sollte solchen Menschen nicht die Deutungshoheit überlassen, weil man sie dadurch ungewollt stärkt. Fragte man jemanden vom IS, lautete die Antwort vermutlich, alle nicht radikalen Muslime seien schlicht keine.
Wenn wir über 'weltoffene', moderate Muslime sprechen, sollten wir m. E. ebensolche zu Wort kommen lassen und nicht Menschen, bei denen von vornherein klar ist, dass sie alles Weltoffene, Tolerante ablehnen.

Es gibt in Deutschland, Europa, weltweit eine sehr große Anzahl an Muslimen. Die moderaten, friedfertigen, ja, eben 'weltoffenen' innerhalb der großen Gruppe aller Muslime zu unterstützen, halte ich als jemand, der selbst keiner Religion angehört, aus zweierlei Gründen für sinnvoll:

  • Erstens leiden sie am stärksten unter den Hardlinern (mehr als Nichtmuslime). Zu deren Opfern gehören z. B. muslimische Frauen, die immer selbstständiger werden wollen, sich gerne modisch anziehen, ihren Lebenspartner selbst, und unabhängig von dessen Religion, aussuchen oder vielleicht studieren möchten. Solchen Menschen sollte man helfen, vor allem wenn sie hier in Deutschland leben.
    Ein anderes Beispiel aus meinem persönlichen Erfahrungsschatz ist ein muslimischer Student, der zu mir kam und sagte, er hätte so gerne deutsche Freunde, würde aber aufgrund deren Skepsis/Ablehnung nur schwer Anschluss finden. Er müsse quasi jeden immer erst von seiner Harmlosigkeit und Freundlichkeit überzeugen. Er ist letztlich ein Opfer des von muslimischen Fanatikern geprägten Bild des 'bösen Muslims'.
    Es hilft hier gar nichts, solchen Leuten zu sagen "Gib entweder deine Religion auf oder ich kann dir nicht helfen!" Das ist meist schlicht unrealistisch. Solange Religion im Leben vieler (ja der Mehrheit aller) Menschen auf der Erde eine so wichtige Rolle spielt, sehe ich es so, dass man den Menschen, die in ihren Freiheiten und Rechten beschnitten werden, immer helfen sollte, nicht nur unter der Bedingung, doch bitte endlich säkular und fortschrittlich zu werden.

  • Man hat nur eine Chance, die Richtung des Islams als Ganzem positiv zu beeinflussen, indem man moderate, reformerische Kräfte dabei unterstützt, sich durchzusetzen und eben nicht die Aussagen von Menschen wie z. B. Erdoğan für allgemeingültig erklärt.

Wann ist ein Muslim ein Muslim?


Zum Schluss möchte ich mich folgender interessanten Frage widmen:

Mit welchen Verhaltensweisen und Ansichten hört ein Muslim auf, Muslim zu sein?

Würde per Definition ein Muslim bei bestimmten, 'weltoffenen' Verhaltensweisen aufhören, Muslim zu sein, dann wäre in der Tat der Islam nicht reformierbar.
Wenn jetzt aber ein Muslim sagte "Ich verhalte mich einfach nicht so, wie die Mehrheit meiner Glaubensgenossen das tut und für richtig hält, bestehe aber darauf, weiterhin Muslim zu sein, weil mir bestimmte Aussagen meiner Religion gut gefallen.", warum würden wir ihm nicht einfach zugestehen, dass er hiermit den Islam reformiert hätte und uns freuen, wenn immer mehr Muslime sich ähnlich verhielten wie er?
Dadurch, dass wir Hardliner für alle Muslime sprechen lassen, nur weil sie am lautesten sind, verhindern wir selbst es, den moderaten Muslimen eine Stimme zu verleihen. Etwas polemisch hatte ich an anderer Stelle 'unsere', m. E. kontraproduktiven Reaktionen auf das jeweilige Verhalten von Muslimen einmal so beschrieben:

  • Ein Muslim ist tatsächlich ein Fanatiker oder gar Terrorist (es geht mir keineswegs darum, abzustreiten, dass ein Teil der in Deutschland lebenden Muslime Probleme bereitet): "Hab ich's doch gesagt, alles Terroristen!"
    Auf meinen Einwand hin, es gebe aber doch auch gemäßigte Muslime, kommt dann die Replik ...

  • "Wenn sie gemäßigt wären, würden sie sich stärker von den Fanatikern in ihren Reihen distanzieren und gegen sie demonstrieren!"
    Ich: "Aber das gibt es doch: Vor einer Kirche hielten kürzlich Muslime eine Mahnwache, um, gemeinsam mit den Christen, ihre Solidarität mit den Opfern eines Terroranschlags und deren Angehörigen zu demonstrieren."
    Endgültiges Gegen'argument':

  • "Tjoa, dann waren das halt gar keine 'richtigen' Muslime."

Tun Muslime, was man von ihnen erhofft, sind sie plötzlich per Defintion keine Muslime mehr - böse Falle? :)
Oder in anderen Worten: Letztlich gesteht man nur den Hardlinern unter den Muslimen zu, 'echte' Muslime zu sein, wodurch man ihre Position ungewollt stärkt.

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