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Praxisbeispiel aus meiner Arbeit als systemische Beraterin

Hallo Menschen,

heute veröffentliche ich ein paar private Notizen aus meiner Arbeit als systemische Beraterin. Einige Angaben habe ich herausgenommen, um ihre Identität zu schützen.

Ich weiß von mir, dass ich immer interessiert daran bin, Beispiele aus der Berater-Praxis von jemandem zu hören.

Ein wesentlicher Aspekt in meiner Arbeit ist das Einbeziehen des Körpers bei den Sitzungen.

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Los geht's:

Gestern wieder eine Sitzung mit meiner Klientin. Habe mit dem Körper gearbeitet. Finde es erstaunlich, was der Körper aussagt und wozu man im Gespräch viel länger bräuchte, um etwas herauszufinden.

Ich legte ein weißes Stück DIN A4 Papier auf den Fußboden und sagte zur Klientin: "Das ist dein Standpunkt. Stell dich doch mal bitte auf das Papier und ich repräsentiere deine Optionen."

Als sie sagte, dass sie sich nicht auf das Papier stellen will, war ich etwas irritiert, habe aber nicht darauf bestanden, dass sie drauf stehen muss. Sie schilderte mir das Problem, nicht in die Handlung zu kommen, alle Optionen, zwischen denen sie wählen kann, spielen sich zunächst in ihrem Kopf ab und sie denkt so lange auf den einzelnen Handlungs-möglichkeiten herum, dass sie einfach an ihrem Punkt stehen bleibt, ohne sich für eine der Möglichkeiten zu entscheiden (die Gedanken sind: „ist es die Option Wert, dass ich ihr nachgehe? Wie wird mein Gegenüber reagieren, wenn ich ihn anspreche? Was wird er von mir denken? Er wird mir bestimmt einen Korb geben. Ich trau mich nicht, zu fragen. Die anderen werden über mich reden.“ Und so weiter). Dabei keine einzige Handlung vollzogen.

Ich sagte: “Stell dir vor, dass ich eine Vielzahl von Optionen repräsentiere. Was tust du?” Ich begann, im Kreis um sie herumzugehen. Sie stand auf ihrem Platz und sah zu, wie ich mich um sie herum bewegte. Irgendwann versuchte sie, sich mir in den Weg zu stellen, ich wich ihr aber aus und ging weiter. Kurze Zeit später machte sie einen erneuten Versuch und ich blieb stehen, weil sie sich aktiv von ihrem Platz wegbewegte und mein Gehen ausbremste.

Ich fragte: “Was ist passiert?”
Sie antwortete: “Ich habe mich bewegt.”
Ich: “Genau. Nun machen wir es umgekehrt. Ich bin du und du bist meine Option.”

Ich stellte mich auf das Papier und tat nichts. Sie nutzte den ganzen Raum und schlenderte umher. Ich versuchte, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, das ignorierte sie. Das machten wir eine ganze Weile so.

Dann fragte ich sie: “Wie war das für dich als Option?”
Und sie meinte: “Ich bin ja nur die Option gewesen. Mir ist es egal, ob du mich ansprichst oder nicht. Ich weiß ja gar nicht, ob es dich gibt.” In dem Moment war klar, dass die Erkenntnis da war:

Wenn sie sich nicht bewegt und nicht nach einer Möglichkeit greift, passiert nichts.

Das war ein guter Moment in der Beratung. Dennoch war es auch ziemlich schwierig. Ich bemerkte meine Ungeduld. Sie versucht in die Erfahrung zu kommen, beschert sich selbst aber immer wieder Misserfolge. Sie erwähnte ein Wochenendseminar, zu dem sie gegangen ist, aber nach zwanzig Minuten verlassen musste. Sie nannte mehrere Gründe. Es hat ihr gestunken. Sie sagte, dass das dies ein Thema sei, nämlich, Räume für Menschen zu schaffen, in denen "allen alles ermöglicht wird". Sie sagte: "Das Verrückte dabei ist aber, dass ich als xx nicht sagen konnte: Nehmt das weg, weil ich ja ansonsten die anderen diskriminieren würde."

Ich sagte ihr, dass ich es total gut finde, dass sie den Schritt unternommen hat, zum Seminar zu gehen und dass es eben eine unter den Möglichkeiten sei, die nun leider nicht perfekt gelaufen ist. Sie entgegnete: "Aber genau darum muss es doch gehen, dass das möglich ist! Das ist doch das Konzept!"

Ich antwortete ihr: "Ja, es ist ein Konzept und es ist eine Theorie. Dass Menschen dies möglich machen wollen und es umsetzen, ist wünschenswert und gut. Aber in der Praxis greifen manche Konzepte nicht zu hundert Prozent, da es im realen Leben keine Perfektion gibt. Die gibt es einfach nicht. Es ist leichter, damit umzugehen, wenn du akzeptierst und anerkennst, dass es so ist. Zwischen Theorie und Praxis besteht immer der Unterschied, dass in der Praxis ein gewisses Maß an Unvollkommenheit herrscht."

Sie sagte: “Ja, aber das ärgert mich so!” Worauf ich ihr antwortete: “Das kann ich verstehen, denn in diesem Fall hast du die Arschkarte gezogen. Das ist manchmal so. Mal zieht der eine, mal der andere den schwarzen Peter. Gib nicht auf, es gibt genauso gute wie schlechte Momente. Wenn du ein Tor schießen willst, musst du viele Schüsse abgeben, vielleicht triffst du in fünf von zehn Fällen.”

Dann kam sie darauf zu sprechen, dass sie sich treffen will zum Lernen in der Bibliothek. Ich sagte: "das ist ja wunderbar!" Sie begann aber aufzuzählen, was daran alles mühsam und unvorteilhaft für sie sei: “Ich kann mein Laptop nicht mitnehmen. Wenn ich mein Fachbuch einpacke, muss ich auch den dicken Duden dabei haben und dann brauche ich ja auch noch eine Wasserflasche. Das wird dann alles wieder so schwer zu tragen sein.” Ich wurde ärgerlich und sagte ihr das. Ich meinte, sie würde selbst sehr genau wissen, was sie mitnehmen könne, da wir darüber bereits gesprochen und die Methoden und Möglichkeiten erörtert hätten. Ich nicht den Punkt sehen würde, wieso wir uns über Wasserflaschen und schwere Bücher unterhielten.

Das hat gesessen und ihr schossen die Tränen in die Augen.
Mir tat es dann Leid und ich fragte sie, was sie jetzt denke. Sie meinte: “Es ist so schwer, Menschen dazu zu bewegen, Verständnis zu haben. Ich komme mir sowieso schon so blöd vor, weil ich immer irgendwelche Ausnahmen und Sonderwünsche habe, aber es ist nun mal so, dass ich nicht gesund bin.” Ich sagte; “Ja, das ist so. Die Menschen um einen herum verstehen einen in der Tat nicht immer.

Wer noch nie eine Depression hatte, weiß einfach nicht, was das bedeutet. Er kann nicht verstehen, wie man sich dann fühlt. Aber differenziere das ein wenig. Du kannst von den Menschen, die dir nahe sind, Verständnis bekommen, doch die anderen, die dir nicht so nah sind, von denen ist das oft zu viel verlangt. Lerne, damit umzugehen und schraube deine Ansprüche nicht so hoch, die sind nicht zu erfüllen.”

Sie sagte: "wenn ich zum Beispiel meinen Freunden sage, dass sie draußen rauchen sollen und dabei unfreundlich werde, ist das auch nicht in Ordnung. Aber wenn ich es nett sage, scheint es auch falsch zu sein."
Ich stimmte ihr zu, dass sie jedes Recht hat, zu bestimmen, dass in ihrer Wohnung nicht geraucht werden soll. Dass zwischen den beiden Möglichkeiten (laut und sauer reden und leise, unsicher und kaum verständlich –das habe ich dann imitiert) in der Mitte eine klare Aussage stünde: “Bitte raucht draußen. Ich danke euch.”

Sie meinte, dass sie doch erstmal gesund werden müsse, damit sie all die Dinge wieder tun kann, die schön sind. Ich fragte sie: "Kann es nicht auch umgekehrt sein?"
Sie überlegte eine Weile, sagte: "Du meinst also, ich muss schöne Dinge tun, um gesund zu werden? Und ich sagte: "Ganz genau. Der Körper ist ja nicht bloß dein Körper, der da an dir herumhängt, sondern der will angenehme und wohltuende Erfahrungen machen. Es ist ein Wechselspiel zwischen Geist, Seele und Körper."

Es gab viel Stoff in dieser Sitzung.

Eine Sitzung danach: Wir sprachen darüber, dass sie sich gestresst fühlt und sich eigentlich viel lieber entspannen und loslassen möchte. Ich fragte sie, wie sie das macht. Daraufhin nannte sie einige Dinge, die körperliche Entspannung betrafen.
Ich: "und, entspannt dich das?" Sie verneinte. Im weiteren Verlauf kam ich darauf zu sprechen, dass es für sie wichtig sei – so wie ich sie erlebe und kennen gelernt habe – dass sie Dinge in ihrem Leben vermisst, für die sie sich interessieren und begeistern kann. Ich bat sie darum, sich solche Momente zu vergegenwärtigen. Sie hat einige auf Karten geschrieben und dann standen wir auf und stellten uns hin.

Ich sagte: "Drücke dieses Gefühl doch bitte mal aus."
Ihre gesamte Körperhaltung veränderte sich, sie wurde gleich offener und frischer.

Ich bat sie, in dem Gefühl zu bleiben und mir kam ein Bild in den Sinn. Ich sagte: "Stell dir vor, du setzt auf dieses Pferd, also auf einen Themenaspekt in deiner Arbeit, der dich packt. Stell dir vor, wie unruhig dieses Pferd wird, wenn es in seiner Box steht und viel lieber hinaus will auf die grüne Wiese, wo es sich freilaufen und galoppieren kann."

Dieses Bild gefiel ihr außerordentlich gut (sie schien mir wie eine, die Pferde mag). "Wenn es genau dieser Aspekt ist, dem du nachgehen möchtest, weil er dich so interessiert, was sind die Schritte, die du unternehmen musst, um Antworten auf deine Fragen zu finden?" Sie sagte zuvor, dass es ihr gut täte, wenn sie mit Menschen in Kontakt komme und dass es ihr Energie gibt.

Ich griff dies auf und fragte: "Du hast gesagt, dass du mit Leuten reden müssest. Wer sind diese Leute und wie kannst du es schaffen, ein Gespräch mit ihnen zu bekommen?"

Sie begann erneut, zu sagen, dass das doch bestimmt nicht klappen würde, die keine Zeit hätten oder keine Lust oder ihr vielleicht gar nicht helfen könnten.

Daraufhin wechselte ich die Perspektive und fragte sie: "Wenn jemand sagt, dass er an dem, was du tust, Interesse hat. Würdest du dich freuen, wenn er dich anspricht?"
Sie sagte: "ja, klar!"
Ich fragte: "Würdest du ihm – sein Interesse vorausgesetzt – gerne antworten?"
Und sie: "Das wär ja voll doof, wenn ich das Gefühl hätte, dass er von mir nichts annehmen kann. Ich würde gerne antworten!"

Dann wollte ich noch von ihr wissen, was passiert, wenn sie den Kontakt erst gar nicht herstellt oder nicht fragt.
Sie sagte: "Nix." Und ich: "Genau. Wenn du erst gar nicht fragst, passiert nichts. Du verschiebst bloß deine Gedanken von einer Ecke in die andere."

Ich gab ihr daraufhin ein Beispiel einer anderen Klientin, der es genauso ging und die, als sie die Perspektive wechselte, plötzlich erkannte, dass “die anderen” auch nur Menschen sind, die auf das reagieren, was an sie herangetragen wird.

In dem Moment, wo wir ehrlich mit unseren Anliegen an Menschen herantreten und sie merken, dass da jemand ist, der Hilfe braucht, etwas wissen will oder eine Empfehlung bekommen möchte, reagieren die meisten positiv. Nur dann, wenn wir unsere wahre Absicht verbergen, uns klein machen oder ein Interesse vortäuschen, werden Menschen misstrauisch und reagieren abweisend.

Sie hat jetzt die Aufgabe für die nächsten Tage, nur diesen Schritt zu machen. Zwei Termine mit Leuten, die sie schon im Auge hatte, anzufragen. Mehr nicht.

Zum Thema Entspannung sagte ich ihr, dass ich nicht davon ausgehe, dass sie noch mehr Entspannung bräuchte. Ich hätte eher den Eindruck, dass sie “Spannung” benötigt. Sie würde sich permanent in der Entspannung befinden, die ihr aber nichts einbrächte, außer, dass ihre Gedanken Karussell fahren. Es fehlt an einer Aufgabe, die sie begeistert und in Bewegung kommen lässt. Ich erläuterte ihr das Spannungsverhältnis zwischen Tun und Lassen, zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Ruhe und Dynamik.

Wir können nicht dauerhaft in einer Ecke bleiben, denn in der einen langweilen wir uns und in der anderen sind wir überfordert. Es gilt, die richtige Balance zwischen beiden zu finden.

Ich sehe, dass meine Klientin gelangweilt ist, aber nicht so recht weiß, wie sie dem entkommen kann. Dummerweise kann das so schlimm werden, dass selbst Langeweile zum Stressfaktor wird. Dann hat sie lange Zeit nicht gearbeitet, dass ihr die Gewohnheit abhanden gekommen ist, produktiv zu sein. Als Folge fehlt die Bestätigung, wertvoll zu sein und so entsteht der Teufelskreis, bis ein Mensch verlernt, wie es sich anfühlt, aktiv zu sein. Sich ganz vieles nicht mehr traut.

Ende der Notizen